Die Ukraine kann die EU zum „Agrar-Powerhaus“ machen
Das große Agrarland zwischen Krieg und EU-Beitritt
Der DLG-Ausschuss Betriebsführung widmete sich in seinem Impulsforum auf der DLG-Wintertagung 2025 Mitte Februar in Münster einem hochrelevanten Thema: „Das Agrarland Ukraine zwischen Krieg und EU-Beitritt“. Die Landwirtschaft in der Ukraine steht vor enormen Herausforderungen, da sie die Folgen des andauernden russischen Angriffskriegs bewältigen muss. Gleichzeitig stellt sich die spannende Frage, wie sich die Ukraine als Schwergewicht im internationalen Getreideexport und mit ihrer großstrukturierten Landwirtschaft bei einem möglichen EU-Beitritt in die Agrarpolitik und den Binnenmarkt der Staatengemeinschaft integrieren lässt.
Als Dr. Alex Lissitsa, Präsident des Branchenverbandes Ukrainian Agribusiness Club (UAC) und selbst Landwirt mit einem großen Betrieb in der Ukraine, auf dem Impulsforum „Das Agrarland Ukraine zwischen Krieg und EU-Beitritt“ das Wort ergreift, dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nahezu drei Jahre an. Ergreifend bedankt sich Lissitsa zunächst für die Unterstützung, die sein Land seit Kriegsbeginn durch die deutsche Bundesregierung erfährt – und formuliert den Appell, dass dies hoffentlich auch in Zukunft so bleiben werde. Der Milchviehhalter beschreibt, wie er kurz vor Kriegsbeginn mit seinem Unternehmen Vorbereitungen für einen möglichen EU-Beitritt treffen wollte – und wie wenige Tage nach diesen Überlegungen die ersten Bomben auf Kiew fielen, landwirtschaftliche Betriebe besetzt oder zerstört wurden – und „die Realität plötzlich ein ganz andere war."
Kürzlich Gesetz zur EU-konformen Pflanzenschutz-Anwendung im Parlament
Trotz des andauernden Angriffskriegs und trotz der jüngsten geopolitischen Verwerfungen arbeitet die ukrainische Regierung nach Schilderungen des UAC-Präsidenten weiter konzentriert daran, die Anforderungen an einen EU-Beitritt zu erfüllen und „tausende Dokumente und Regularien zu überprüfen.“ So habe das Agrarministerium in Kiew erst kürzlich mehrere Gesetze durchs Parlament gebracht, unter anderem zur Pflanzenschutzanwendung nach EU-Standards, bekräftigte Lissitsa. Großbetriebe im Land würden sich zudem mit EU-konformen Nachhaltigkeitsstandards und damit verbundenen ESG-Berichtspflichten auseinandersetzen.

Mit Blick auf die Ängste von Landwirten aus einigen EU-Mitgliedstaaten verwies Lissitsa auf „einige Narrative“, die konstruiert und häufig nicht einer Überprüfung durch Zahlen, Daten und Fakten standhielten. Wenn sich manche EU-Staaten vor Verwerfungen durch Zuckerimporte aus der Ukraine fürchteten, entspreche dies keinem realistischen Bild der Lage, sagte Lissitsa: Die Zuckerimporte der EU kämen zum Großteil aus Südamerika – die Ukraine komme nicht einmal auf ein Zehntel der Menge, die südamerikanische Exporteure nach Europa lieferten.

Standortbestimmung: Das Agrarland Ukraine
Mit 40,8 Prozent hat Getreide nach Angaben des Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) den größten Exportanteil an landwirtschaftlichen Produkten in der Ukraine, gefolgt von der Produktgruppe Tierische oder pflanzliche Fette und Öle mit 22,4 Prozent. Der Krieg hat die Exportstrukturen der Ukraine verändert, mit einer Verschiebung hin zu mehr Ausfuhren in die EU: Flossen im Vorkriegsjahr 2020 noch 29,4 Prozent der Ausfuhren des Landes nach Europa, waren es 2022, im ersten Kriegsjahr, 55,2 Prozent. Im Jahr 2023 stieg dieser Anteil auf 56,8 Prozent, um 2024 zurückzugehen auf 52 Prozent. Weitere Destinationen für Agrarexporte der Ukraine sind: Die Eurasische Wirtschaftsunion als Zusammenschluss von post-sowjetischen Staaten, Südostasien, der Nahe Osten und Afrika. Gegenwärtig umfassen die Exporte von Weizen, Mais und Sonnenblumen (Saaten, Schrot, Öl) aus der Ukraine knapp unter 50 Mio. t im Jahr und bewegen sich damit auf dem Niveau von 2015/16. Zum Vergleich: In den Jahren 2018/19 hat die Ukraine rund 60 Mio. t Getreide und Ölsaaten exportiert.
Die Betriebsstruktur in der Ukraine umfasst etwa 4 Millionen Hauswirtschaften mit durchschnittlich 1,5 ha landwirtschaftlicher Fläche, rund 63.000 Familienbetriebe mit durchschnittlich 75 ha sowie 14.000 Juristische Personen, darunter Agrargesellschaften wie Agroholdings. Juristische Personen stellen knapp die Hälfte der Agrarproduktion in der Ukraine, wie aus Angaben aus offiziellen ukrainischen Quellen sowie internationalen Schätzungen hervorgeht. Agroholdings wie Kernel oder MHP sind in der Öffentlichkeit präsent und erwirtschaften nach Angaben von Prof. Alfons Balmann (IAMO) weit überdurchschnittliche Erträge und bleiben trotz des Krieges sehr produktiv.
Zahlen, Daten, Fakten kontra „Fake News“
Dr. Martin Schneider aus der Geschäftsführung des Beratungsunternehmens IAK Agrar Consulting GmbH in Leipzig verwies seinerseits auf kontroverse Diskussionen mit Landwirten in Deutschland über den EU-Beitritt der Ukraine. Er pflichtete Lissitsas Einschätzung bei, dass hier häufig emotional getriebene Narrative am Werk seien, sprach in manchen Fällen gar von „Fake News“, die durch Fakten widerlegt werden müssten.
So hätten Landwirte in Deutschland die Situation, als ukrainisches Getreide kriegsbedingt nicht mehr über den Seeweg vermarktet werden konnte und verstärkt in den EU-Binnenmarkt abfloss, kritisch verfolgt und auch den Widerstand auf die Situation unter polnischen Farmern beobachtet. Behauptungen, dass hiesige Landhändler nur noch ukrainische Ware gekauft hätten, hielten aber der Überprüfung durch die Realität nicht stand, betonte Schneider.
IAK Agrar Consulting ist einer der Durchführungspartner im Projektkonsortium Deutsch-Ukrainischer Agrarpolitischer Dialog des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL). Der Dialog hat den Austausch beider Länder in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auf Augenhöhe zum Ziel. IAK-Geschäftsführungsmitglied Schneider wies darauf hin, dass sich „nach einem EU-Beitritt der Ukraine das GAP-System ändern“ müsse, was aber an sich aufgrund des Reformbedarfs der Fördersysteme in der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik - vor allem mit Blick auf die flächengebundenen Direktzahlungen - ohnehin der Fall sei. Die Ukraine böte der EU die Chance, im globalen Agrarmarkt „ein richtiges Powerhaus zu werden“, zeigte sich Schneider überzeugt.
Prof. Dr. Alfons Balmann, Direktor des Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO), ordnete die Vorbehalte der EU-Landwirtschaft mit Blick auf zusätzliche Importe aus der Ukraine aufgrund des russischen Angriffskrieges ein: Die Mengen an Sonnenblumen- oder Rapsöl oder auch Getreide, die zusätzlich in die EU geflossen seien, wären unter anderen Voraussetzungen in andere Teile der Welt exportiert worden und haben daher die globale Marktbilanz nicht grundsätzlich verändert, konstatierte der Wissenschaftler.
Ukraine braucht keine Direktzahlungen
Ukrainische Importe gingen schwerpunktmäßig an Veredlungsstandorte wie Spanien oder Niederlande und Deutschland - und die EU exportiert Betriebsmittel wie Pflanzenschutzmittel oder Saatgut in die Ukraine, unterstrich Balmann. Davon profitiere auch die Wirtschaft in der EU, das komme in den teilweise kontroversen Diskussionen in der EU-Landwirtschaft bedauerlicher Weise zu kurz. Balmanns Einschätzungen nach seien EU-Flächenbeihilfen „das Letzte, was die ukrainische Landwirtschaft will“ – schon alleine, um die Preisfindung auf dem Bodenmarkt nicht zu stören. Auch könnten gerade die sehr großen und leistungsstarken Agroholdings kaum begründen, Flächenbeihilfen zu beziehen.
EU-Wirtschaft kann Investitionen begleiten
Balmann sieht indessen eine große Perspektive für die ukrainische Landwirtschaft darin, die Wertschöpfung in der Agrar- und Ernährungswirtschaft zu vertiefen. Auch Alex Lissitsa sieht hier Chancen, übrigens auch für Unternehmen in der EU, die entsprechende Investitionen in der Ukraine begleiten könnten. Momentan würden noch rund 50 Prozent der Schweine im Land in den Hauswirtschaften, also familiären Kleinstbetrieben, geschlachtet. Nach einem EU-Beitritt wäre diese Art der Schlachtung nach EU-Vorgaben nicht mehr zulässig. Entsprechend müsse die Ukraine in eine professionelle Schlacht-Infrastruktur investieren, unterstrich Lissitsa.
Text: Stefanie Pionke, DLG-Newsroom