Kultiviertes Fleisch als Chance
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Nick Lin-Hi, DLG-Ausschuss New Feed & Food
Nick Lin-Hi ist Professor für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht ein fruchtbares Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Diesen Fokus bringt er auch in seine Arbeit als Experte im DLG-Ausschuss New Feed & Food ein. Was den Ausschuss bedeutsam macht für eine positive Zukunftsvision der heimischen Agrar- & Ernährungswirtschaft und welche Innovationen dafür zentral sind, darüber spricht Prof. Nick Lin-Hi im Interview.
DLG: Was ist der wichtigste Impuls, den Sie persönlich als Mitglied im DLG-Ausschuss New Feed & Food setzen wollen?
Prof. Nick Lin-Hi: Erst einmal ist es super und wichtig, dass dieser neue Ausschuss eingerichtet wurde. Hierin spiegelt sich wider, dass neue Ansätze in der deutschen Agrar- und Ernährungsindustrie nicht nur wahrgenommen werden, sondern man sich auch mit diesen beschäftigt. Diese aktive Auseinandersetzung mit dem Neuen ist die Voraussetzung dafür, um die eigene Zukunft aktiv und für sich selbst positiv gestalten zu können. Und genau hier setzt auch meine Motivation für meine Mitwirkung in dem DLG-Ausschuss New Feed & Food an, wobei mein besonderes Interesse kultiviertem Fleisch gilt.
Ist denn kultiviertes Fleisch ein Thema, das auch die Landwirtinnen und Landwirte berührt?
Auf jeden Fall. Ich möchte dazu beitragen, dass die heimische Landwirtschaft kultiviertes Fleisch als Chance für die eigene Zukunftsfähigkeit sehen kann.
Fangen wir mal bei Ihrer eigenen Motivation an: Sie sind Inhaber der Professur für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta: Wie hat sich in dem Themenfeld Ihr Schwerpunkt kultiviertes Fleisch ergeben?
Im Mittelpunkt meiner Forschung steht die klassisch wirtschaftsethische Frage nach einem fruchtbaren Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Als normative Leitidee fungiert dabei das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung. Letzteres verlangt grundlegende Veränderungen in unseren Lebensstilen und Konsummustern. Indes zeigt die Praxis, dass die meisten Menschen nicht bereit sind, im Namen von Nachhaltigkeit dauerhaft persönliche Interessen zurückzustellen bzw. zu verzichten.
…und Sie sehen eine Lösung für dieses Dilemma bei kultivierten Fleisch…
…unter anderem, ja. Hieraus ergibt sich für mich die Konsequenz, dass ein zentraler Stellhebel in technologischem Fortschritt und Sprunginnovationen für eine nachhaltige Entwicklung liegt. Kultiviertes Fleisch ist eine solche Sprunginnovation und kann dabei helfen, globale Herausforderungen besser zu bewältigen und gesellschaftliche Zielstellungen zu erreichen. Da es sich bei kultiviertem Fleisch um „echtes Fleisch“ handelt, was die gleichen Eigenschaften hat, wie wir sie heute kennen, wird ein nachhaltiger Konsum ohne Verzicht möglich.
Zur Person
Nick Lin-Hi ist seit Oktober 2015 Professor für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta. Er promovierte 2008 an der HHL Leipzig Graduate School of Management und war von 2009 bis 2015 Juniorprofessor für Corporate Social Responsibility (CSR) an der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem CSR-Management, Sprunginnovationen für eine nachhaltige Entwicklung – insbesondere kultiviertes Fleisch – sowie Technologieakzeptanz. Darüber hinaus engagiert sich Prof. Lin-Hi stark in der Wissenschaftskommunikation und ist durch Vorträge, Führungskräftetrainings und Beratungstätigkeiten eng mit der Praxis verbunden.
Inwiefern hat kultiviertes Fleisch das Potenzial, zum Gamechanger für das globale Agrar- und Ernährungssystem zu werden – und wo wird sich dieser Markt zuerst durchsetzen und aus welchen Gründen?
Vorab sei gesagt, dass ich mich wirklich vor der Leistung der modernen Agrar- und Ernährungsindustrie verbeuge. Sie ermöglicht Milliarden von Menschen den Zugang zu guten und qualitativ hochwertigen Lebensmitteln zu bezahlbaren Preisen. Nichtsdestotrotz haben wir die Situation, dass die moderne Agrar- und Ernährungsindustrie substanzielle externe Effekte verursacht und zudem im Zeitalter des Klimawandels zunehmend unter (Flächen-)Druck gerät. Mit der in-vitro Technologie können tierische Proteine auch dort erzeugt werden, wo dies zukünftig aufgrund veränderter klimatischer Bedingungen mit heutigen Methoden nicht mehr möglich sein wird. Hieran zeigt sich, zum einen, dass die Technologie auch und insbesondere für den globalen Süden hoch relevant ist und zum anderen, dass sie auf die globale Ernährungssicherheit einzahlt.
In welcher Weise kann und wird diese Technologie in weniger entwickelten Regionen der Welt Einzug halten?
Kultiviertes Fleisch ist mittlerweile in Singapur, USA und Israel zugelassen, sodass hier die regulatorischen Voraussetzungen gegeben sind, damit sich die Technologie hier im Markt beweisen kann. Stand heute ist es schwer zu prognostizieren, in welcher Geschwindigkeit und welcher Abfolge sich die Technologie in welchen Märkten etablieren wird. Was man stand heute aber sagen kann ist, dass die EU-Länder wohl nicht vorne mit dabei sein werden. Grund hierfür ist, dass nicht zu erwarten ist, dass wir in den nächsten Jahren eine Zulassung für kultiviertes Fleisch bekommen werden.
Nutztiere und kultiviertes Fleisch – inwiefern haben beide Platz im Ernährungssystem der Zukunft? Sind tierische Haltungsformen im Agrar- und Ernährungssystem überhaupt gänzlich verzichtbar?
Nutztierhaltung als solches wird es ganz sicher auch in Zukunft immer geben. Eine andere Frage ist, wie diese Haltung aussehen könnte. Eine ganz konkrete Frage ist: Brauchen wir bei einer Diffusion der in-vitro Technologie zur Erzeugung von Fleisch ganz langfristig noch die Intensivtierhaltung? Jenseits dessen ist es so, dass wir auf globaler Ebene mit einer steigenden Nachfrage nach Fleisch konfrontiert sind. Konkret wird prognostiziert, dass die Nachfrage aufgrund von Bevölkerungswachstum und Wohlstandssteigerungen bis 2050 um mindestens 60 Prozent zunehmen wird. Diese Nachfragesteigerung kann mit dem bisherigen System gar nicht bedient werden. Insofern bietet kultiviertes Fleisch erst einmal die Möglichkeit, die steigende Nachfrage zu befriedigen.
Genügend Nahrung für eine wachsende Weltbevölkerung bereitzustellen bei gleichzeitiger Wahrung der planetaren Grenzen: Wenn Sie diese Aufgabe mit drei großen Innovationen lösen dürften, welche würden Sie wählen und warum?
Ganz oben auf meiner Liste steht, wenig überraschend, kultiviertes Fleisch aus den bereits zuvor skizzierten Gründen. Genau genommen müssten wir – und damit sind wir bei Nummer zwei – eigentlich von der zellulären Landwirtschaft sprechen, welche den Ansatz verfolgt, Nahrungsmittel nicht auf Ebene eines Gesamtorganismus‘ zu erzeugen, sondern auf zellulärer Ebene. Neben Fleisch lassen sich so auch Milch bzw. Milchproteine erzeugen und auch pflanzliche Produkte wie beispielsweise Kakao können so hergestellt werden. Als dritte große Innovation zur Bewältigung der Herausforderungen sehe ich die neuen Geneditierungstechniken wie CRISPR. Wir haben es hier mit hochpotenten Ansätzen zu tun, welche nicht nur die Erträge deutlich steigern können, sondern ebenso Produkte besser machen könnten. In Anbetracht der riesigen globalen Herausforderungen können wir es uns nicht leisten, auf technologische Optionen – aus welchen Gründen auch immer – zu verzichten.
Der DLG-Ausschuss New Feed & Food
Der DLG-Ausschuss New Feed & Food wurde im Rahmen der „Inhouse Farming – Feed & Food Show“ auf der AgriTechnica im November 2023 in Hannover gegründet. Er beschäftigt sich mit der Zukunft der Produktions- und Wertschöpfungsketten der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und den damit einhergehenden Innovationen und Transformationen. Die Expertinnen und Experten im Ausschuss verfolgen dabei das Ziel, auf die vielfältigen aktuellen Herausforderungen sowie die Veränderungen von gesellschaftlichen Erwartungen Antworten zu finden. Themen, wie etwa die Resilienz der Lieferketten, innovative Verfahren, Materialien und Technik sowie ein effizientes Ressourcenmanagement bilden Schwerpunkte der Arbeit. Hinzu kommen Themen wie die Produktion und Verarbeitung von pflanzlichen Proteinquellen, Insekten und Algen sowie Vertical Farming und zelluläre Landwirtschaft.
Dem DLG-Ausschuss New Feed & Food gehören an:
- Prof. Dr. Tilo Hühn, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW (Vorsitzender)
- Prof. Dr. Claudia Grewe, Hochschule Anhalt
- Michael Gusko, ZERO1 HEALTH GmbH
- Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Universität Vechta
- Dr. Stefan Pecoroni, GEA WESTFALIA SEPARATOR GROUP GMBH
- Frank Peters, Spezialist für alternative Proteine
- Simone Poppe, NewFood Consulting GmbH
- Prof. Dr. Kai Pumphagen, Universität Bayreuth
- Prof. Dr. Katharina Riehn, Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg
- Kay Schumacher, Bösch Boden Spies Import GmbH
- Jörg Ullmann, Algenfarm Klötze GmbH & Co. KG
- Florentine Zieglowski, RESPECTfarms und CellAg
Der Ausschuss wird seitens der DLG fachübergreifend betreut von Inka Scharf (DLG-Fachzentrum Lebensmittel), Jessica Biehl (DLG Test Service GmbH) sowie Prof. Dr. Nils Borchard (Fachzentrum Landwirtschaft).