Die Weltbevölkerung wächst und muss in Zukunft nachhaltig im Rahmen der planetaren Grenzen ernährt werden. Dafür sind eine Transformation der Ernährung und Landwirtschaft unausweichlich. Wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verbraucher diesen Change-Prozess gemeinsam meistern können, darüber spricht New-Food-Beraterin Simone Poppe. Die Expertin für neuartige Lebensmittel ist Mitglied im DLG-Ausschuss New Feed & Food.
DLG-Newsroom: Was ist der wichtigste Impuls, den Sie persönlich als Mitglied im DLG-Ausschuss New Feed & Food setzen möchten?
Simone Poppe: Als Mitglied im DLG-Ausschuss „New Feed & Food“ sehe ich meinen wichtigsten Auftrag darin, als Brückenbauerin zwischen den verschiedenen Welten – Politik, Wissenschaft und Wirtschaft – zu agieren. Der Ausschuss bringt eine Vielzahl an Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Bereichen und mit verschiedensten Blickwinkeln zusammen. Das bietet eine wertvolle Plattform für den Austausch und die gemeinsame Entwicklung von Lösungen. Meine breite Expertise im Bereich New Food ermöglicht es mir, Dialoge zu unterstützen - und ich möchte dabei den Fokus auf klare Kommunikation und fundierte Aufklärung legen.
Warum ist Aufklärung im Bereich New Food so zentral?
Besonders wichtig ist es, den Wandel in der Ernährung und Landwirtschaft aktiv zu begleiten und positiv mitzugestalten. Veränderungen sind in diesen Bereichen unvermeidlich. Der ökologische Fußabdruck, den wir vor allem in den westlichen Industrienationen mit unserer Ernährung hinterlassen, ist gegenwärtig zu groß. Außerdem werden wir mit der Landwirtschaft, wie wir sie momentan betreiben, zwangsläufig an planetare Grenzen stoßen: Das zeigt sich vor allem in der Flächenbindung. Ich möchte dazu beitragen, dass die erforderlichen Veränderungen in der Ernährung und landwirtschaftlichen Produktion sowohl nachhaltig sind als auch gesellschaftlich akzeptiert werden. In dem Transformationsprozess ist es zentral, die verschiedenen Perspektiven zu integrieren und so den Weg für zukunftsweisende Entwicklungen zu ebnen.
Ein solcher Wandel ist ein großer Change-Prozess, in dem alle Akteure offen für Neues sein müssen und offen für die Zusammenarbeit mit Mitbewerbern, Start-Ups, Wissenschaft und Politik. Ängste müssen überwunden und Neues aktiv angegangen werden! Nur gemeinsam bekommen wir diesen Wandel hin!
Sie beraten mit Ihrer Firma NewFood Consulting Unternehmen, die im New-Food-Bereich aktiv sind oder in den Markt einsteigen wollen: Welche Themen treiben Ihre Mandanten am stärksten um und weshalb?
Die wichtigsten Themen, die meine Mandanten im New-Food-Bereich bewegen, sind vor allem die Herausforderungen rund um Verbraucherakzeptanz, Regulierungen und Markteintrittsstrategien. Viele Unternehmen wollen sich auf die wachsende Nachfrage nach nachhaltig produzierten Lebensmitteln einstellen, stehen jedoch vor komplexen Fragen der Rohstoffbeschaffung und Produktionsprozesse. Und auch das Finden der richtigen Partner entlang der Wertschöpfungskette ist eine zentrale Aufgabe für sie. Neue Wege gehen heißt auch, neue Allianzen zu schließen und gemeinsam Themen voranzubringen. Gebündelte Expertise entlang der Wertschöpfungskette beschleunigt die Entwicklung des Marktes.
Zudem sorgt die rechtliche Unsicherheit bei neuen Produkten, insbesondere im Bereich der Novel Foods, für Unsicherheit bei meinen Mandanten. Aktuell sind die Zulassungsprozesse für Lebensmittel in der EU so gestaltet, dass sie den New-Food-Bereich nicht gut abbilden – vor allem dann, wenn neuartige Produktionsprozesse mit bereits bekannten Rohstoffen kombiniert werden. Auf Herstellerseite schafft dies Unsicherheit darüber, ob ein Lebensmittel als neuartig, als „Novel Food“, zugelassen werden muss – oder gar keine besondere Zulassung erforderlich ist. Muss ein Produkt als neuartiges Lebensmittel zugelassen werden, ist der Prozess langwierig und kostspielig – und am Ende steht eine politische Entscheidung, die schwer einzuschätzen ist. Hier brauchen wir mehr Transparenz und einfachere, gradlinigere Prozesse.
Ein solcher Wandel ist ein großer Change-Prozess, in dem alle Akteure offen für Neues sein müssen.
Simone Poppe
Zur Person
Simone Poppe ist Inhaberin und Geschäftsführerin des Beratungsunternehmens NewFood Consulting GmbH in Oldenburg. Sie berät Unternehmen, Start-Ups und Institutionen, die sich im New-Food-Markt engagieren wollen. So vermittelt sie beispielsweise geeignete Geschäftspartner und unterstützt beim Sourcing von Rohstoffen oder beim Aufbau von Produktionsprozessen. Simone Poppe blickt auf vielfältige Erfahrungen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft zurück, unter anderem durch verschiedene Führungspositionen beim Molkereikonzern DMK Group sowie bei der PHW Gruppe. So hat sie bei der DMK Group den Bereich Rohstoffsteuerung geleitet und war bei der PHW-Gruppe beispielsweise als Director Alternative Proteins tätig. Darüber hinaus hat Sie Erfahrungen in der Start-up-Welt gesammelt als Chief Operating Officer bei einem Start-up für Ei-Alternativen.
In den USA und Singapur werden Unternehmen bereits im Zulassungsprozess besser betreut.
Simone Poppe
Welche Herausforderungen müssen die Agrar- und Ernährungswirtschaft sowie die Agrar- und Ernährungspolitik in Deutschland und Europa nach Ihrer Beobachtung meistern, um sich innovationsfreundlicher und fortschrittlicher aufzustellen?
Eine der zentralen Aufgaben ist es, eine größere Offenheit gegenüber neuen Technologien und innovativen Ansätzen zu entwickeln. Hierbei spielt die enge Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft eine Schlüsselrolle. Nur durch gemeinsame Wege in Forschung und Entwicklung lassen sich Lösungen schneller und effizienter voranbringen. Diese Kooperation ist entscheidend, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und die Branche widerstandsfähig gegenüber globalen Herausforderungen zu machen.
Die Zusammenarbeit der „drei Monde“ – Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – ist dabei von größter Bedeutung. Diese drei Akteure müssen verstärkt kooperieren, um Innovationen nicht nur zu fördern, sondern auch umzusetzen. Die Politik hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich Forschung und Industrie optimal entfalten können. Das kann gelingen, indem regulatorische Hürden abgebaut und Entscheidungsprozesse beschleunigt werden.
Gerade aus der Start-Up-Szene ist bisweilen die Kritik zu hören, dass junge und innovative Unternehmen im Bereich Agrifood in anderen Märkten, beispielsweise den USA oder Singapur, bessere Voraussetzungen vorfinden: Wie schätzen Sie den Standort Deutschland ein?
Deutschland bietet mit seiner hoch entwickelten Industrie von der Agrarwirtschaft über den Maschinenbau bis hin zum Lebensmittel exzellente Voraussetzungen, um international eine Spitzenposition einzunehmen. Um diesen Vorsprung nicht zu verlieren, sondern tatsächlich eine führende Rolle einzunehmen, muss das Land innovationsfreundlicher und flexibler werden. Besonders im Bereich der Zulassung neuer Lebensmittel – hier ist auch die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA gefragt - ist es unerlässlich, dass die Prozesse schneller und effizienter ablaufen. Nur so kann die deutsche Agrar- und Ernährungswirtschaft mit den globalen Entwicklungen Schritt halten und sich weiterhin als Vorreiter auf internationalem Niveau behaupten. In Singapur und den USA werden innovative Unternehmen aus der Ernährungsbranche bereits im Zulassungsprozess besser betreut, der in beiden Ländern zudem deutlich schneller als in der EU und somit Deutschland abläuft.
Der DLG-Ausschuss New Feed & Food
Der DLG-Ausschuss New Feed & Food wurde im Rahmen der „Inhouse Farming – Feed & Food Show“ auf der AgriTechnica im November 2023 in Hannover gegründet. Er beschäftigt sich mit der Zukunft der Produktions- und Wertschöpfungsketten der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und den damit einhergehenden Innovationen und Transformationen. Die Expertinnen und Experten im Ausschuss verfolgen dabei das Ziel, auf die vielfältigen aktuellen Herausforderungen sowie die Veränderungen von gesellschaftlichen Erwartungen Antworten zu finden. Themen, wie etwa die Resilienz der Lieferketten, innovative Verfahren, Materialien und Technik sowie ein effizientes Ressourcenmanagement bilden Schwerpunkte der Arbeit. Hinzu kommen Themen wie die Produktion und Verarbeitung von pflanzlichen Proteinquellen, Insekten und Algen sowie Vertical Farming und zelluläre Landwirtschaft.
Dem DLG-Ausschuss New Feed & Food gehören an:
- Prof. Dr. Tilo Hühn, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW (Vorsitzender)
- Prof. Dr. Claudia Grewe, Hochschule Anhalt
- Michael Gusko, ZERO1 HEALTH GmbH
- Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Universität Vechta
- Dr. Stefan Pecoroni, GEA WESTFALIA SEPARATOR GROUP GMBH
- Frank Peters, Spezialist für alternative Proteine
- Simone Poppe, NewFood Consulting GmbH
- Prof. Dr. Kai Pumphagen, Universität Bayreuth
- Prof. Dr. Katharina Riehn, Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg
- Kay Schumacher, Bösch Boden Spies Import GmbH
- Jörg Ullmann, Algenfarm Klötze GmbH & Co. KG
- Florentine Zieglowski, RESPECTfarms und CellAg
Der Ausschuss wird seitens der DLG fachübergreifend betreut von Inka Scharf (DLG-Fachzentrum Lebensmittel), Jessica Biehl (DLG Test Service GmbH) sowie Prof. Dr. Nils Borchard (Fachzentrum Landwirtschaft).
Die klassische Landwirtschaft und der New-Food-Bereich mit seinen verschiedenen Facetten werden von manchen Branchenteilnehmern als in Konkurrenz zueinander stehend wahrgenommen: Inwiefern ist diese Auffassung berechtigt – und wo sehen Sie dagegen Potenziale für wechselseitige Ergänzungen und Zusammenarbeit?
Die Landwirtschaft ist aus meiner Sicht der Ursprung aller Lebensmittel, sie ist spannend und divers. Landwirt und Landwirtinnen haben sich immer auf neue Situationen und Bedingungen eingestellt, sei es durch veränderte Klimabedingungen oder veränderte Nachfrage.
Wir haben durch eine wachsende Weltbevölkerung einen höheren Bedarf an Lebensmitteln, um alle Menschen auf der Erde ausreichend zu ernähren. Hier fehlt es auch an Proteinen. An der Stelle ist eine gewinnbringende Zusammenarbeit von klassischer Landwirtschaft und dem New-Food-Bereich gefragt: Wir brauchen eine nachhaltige Kombination von Proteinen tierischer Herkunft und alternativen Proteinen, um sowohl den Nahrungsmittelbedarf einer steigenden Weltbevölkerung zu decken als auch dem Klimawandel entgegenzuwirken.
Wie könnte so eine nachhaltige Kombination aussehen?
Der Transformationseffekt wäre bereits durch eine Veränderung der Essgewohnheiten von Flexitariern, die den Anteil tierischer Proteine in ihrem Speiseplan reduzieren, sehr hoch. Das Gleiche gilt für die Entwicklung neuer Lebensmittel, die Anteile von Fleisch und Pflanzen enthalten, also sogenannte hybride Produkte. Fleisch kann in Kombination mit Pflanzenproteinen beispielsweise zu einem schmackhaften, tollen Schnitzel werden.
Genügend Nahrung für eine wachsende Weltbevölkerung bereitzustellen bei gleichzeitiger Wahrung der planetaren Grenzen: Wenn Sie diese Aufgabe mit drei großen Innovationen lösen dürften, welche würden Sie wählen und warum?
Das wären für mich neues Saatgut und innovative Pflanzenzucht, Vertical Farming und Fermentation.
Ich denke, wir müssen Kreislaufsysteme schaffen, also Wertschöpfungsketten durch Wertschöpfungskreise ersetzen, und in diesen Wertschöpfungskreisen Innovationen aus den Bereichen der Pflanzenzüchtung, Produktionstechnik und auch Energiegewinnung zusammenbringen.
Neben der großen Herausforderung der nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion innerhalb der planetaren Grenzen ist es wesentlich, die Welt zu ernähren und Menschen in ihrem Heimatländern vor Hunger und Not zu bewahren. Sehr trockene von Dürren betroffene Teile der Welt könnten beispielsweise von innovativen trockentoleranten Saaten enorm profitieren, die in neu entwickelten Vertical Farms aufgezogen und auch effektiv geerntet werden können. Konkrete Beispiele wären Soja, der sich in einer Indoor-Farm aufziehen und optimal ernten lässt, oder Weizen, der bodennäher wächst, nur eine Ähre ausbildet und außerdem wenig Wasser benötigt. An flachem und einährigem Weizen wird aktuell geforscht, weil dieser sich vollautomatisiert ernten lässt – und der vollständige Automatisierungsgrad macht ja erst das Konzept einer Vertical Farm aus.
Zudem würden Nebenprodukte oder auch Sidestreams aus der Erzeugung von solchen wertvollen Rohstoffen mit Hilfe von Fermentation in einer den Vertical Farms angeschlossenen Fabrik zu neuen wertvollen Rohstoffen verarbeitet. Das alles würde mit einem Konzept der Verwendung von alternativen Energien in Verbindung stehen, beispielsweise Sonnenenergie oder Waste-to-Energie. Die Abfälle aus der Energiegewinnung wiederum würden als Dünger verwendet und auf diese Weise würden alle Stoffe einem Kreislaufsystem zugeführt werden.
Das wäre meine Vision der Zukunft.