Den Blick auf die Nährstoffe richten

DLG-Unternehmertage: „Trends und innovative Geschäftsmodelle in der Ernährungswirtschaft“

Prof. Dr. Katharina Riehn, DLG-Vizepräsidentin und Professorin für Lebensmittel-Mikrobiologie und -Toxikologie an der HAW Hamburg moderierte den Deep-Dive. Fotos: DLG/Swen Pförtner

Veränderte Lebensrealitäten, widersprüchliche Konsumerwartungen, technische Neuheiten und der Ruf nach nachhaltigen Lösungen: Unternehmer in Land- und Lebensmittelwirtschaft stehen vor großen Herausforderungen. Es braucht ein tiefgreifendes Umdenken, innovative Ansätze und den Mut, Neues zu wagen. Genau darum ging es im Deep-Dive „Trends und innovative Geschäftsmodelle in der Ernährungswirtschaft“ auf den DLG-Unternehmertagen Anfang September 2025 in Erfurt. Im kleinen Kreis unter der Leitung von Prof. Dr. Katharina Riehn, DLG-Vizepräsidentin und Professorin für Lebensmittel-Mikrobiologie und -Toxikologie an der HAW Hamburg, stellten drei Experten ihre Konzepte vor.

Vielversprechende Algen

Großes Potenzial für kleinen Raum und starke Werte in Sachen Ressourcenschutz: Die Zucht von Spirulina-Algen stellt einen aussichtsreichen Ansatz in der Entwicklung der Lebensmittelwirtschaft dar. Gunnar Mühlstädt, CTO bei Algenwerk (PUEVIT GmbH), sieht in der Züchtung von Algen die Möglichkeit, eiweißreiche Ernährung ebenso wie die effiziente Nutzung von Energie und Fläche neu zu denken. Das auf B2B-Beziehungen spezialisierte Unternehmen aus Dresden stellt dafür nicht nur die geerntete Alge als Inhaltsstoff für verschiedenste Lebensmittel und Kosmetika zur Verfügung, sondern bietet Kunden auch die Möglichkeit, im eigens dafür entwickelten Rohrsystem selbst Algen anzubauen. Mühlstädt sieht die Idee seines Unternehmens auch als interessanten Ansatz für die Landwirtschaft: Das modulare System sei platzsparend unterzubringen, beispielsweise in alten Ställen oder Scheunen. Zugeführte Energie aus Biogas, Wind- oder Solarkraft wird von den Algen hoch produktiv verwertet, wobei lediglich Wasser und Sauerstoff als Abfall entstehen.

Funktionaler Inhaltsstoff

Dass der Algen-Ansatz nichts Neues ist, sieht Mühlstädt ein: Aufgrund ihrer grünen Farbe und des typischen Geschmacks sei die Alge als Nahrungsergänzungsmittel bisher gescheitert. Spirulina, neutral im Geschmack, biete als funktionaler Inhaltsstoff allerdings neue Möglichkeiten. Geschmack, Geruch und Textur seien die wichtigsten Stellschrauben bei der erfolgreichen Neupositionierung von Algen, so Mühlstädt. Sein Ziel:
 

 „Produkte mit Algen sollen gut sein, weil sie Algen enthalten und nicht obwohl Algen drin sind.“ 


Für eine solche Neuaufstellung bedürfe es Pionieren, die bereit sind, der Alge eine zweite Chance zu geben. Unsicherheiten begegnet Algenwerk mit einem umfangreichen Franchise-Angebot und der Übernahme von Vertriebs- und Abnahmeprozessen, um möglichst niedrigschwellig Anreize zu setzen, die Alge mit ihren Möglichkeiten neu zu denken. 

Gunnar Mühlstädt, CTO bei Algenwerk, stellte mit der Algenzucht einen vielversprechenden Ansatz in der Lebensmittelindustrie vor.
Prof. Dr. Katharina Riehm, DLG-Vizepräsidentin (Mitte) in der Diskussion mit Simone Schiller (r.) und wissenschaftlicher Assistentin (l.).
Simone Schiller, Projektleiterin DLG, moderierte die Masterclass „Gemeinsam produktiver“.
Rebecca Bohlmann, Produktmanagerin bei planteneers, problematisierte in ihrem Vortrag die starren Klassifizierungsmodelle in der Lebensmittelwirtschaft.
Teilnehmer der Diskussionsrunde (v.l.n.r.): Prof. Katharina Riehm, Rebecca Bohlmann, Prof. Christina Holzapfel und Gunnar Mühlstädt.

Die Zukunft ist pflanzlich und hoch verarbeitet

Hochverarbeitete Lebensmittel sind stark gesundheitsgefährdend. Falsch, findet Rebecca Bohlmann von planteneers GmbH. Oder zumindest nicht pauschal richtig. Bohlmann arbeitet als Produktmanagerin bei planteneers, einem Unternehmen aus Ahrensburg, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Zukunft der Lebensmittelindustrie rein pflanzlich zu gestalten und Kunden dabei bei der passenden Rezepturentwicklung für pflanzliche Alternativ­produkte zu unterstützen. Doch das ist nicht immer leicht: Klassifizierungssysteme, wie das NOVA-System, das Konsumenten bei einer gesunden Kaufentscheidung unterstützen soll, erschweren die erfolgreiche Vermarktung des Ansatzes. 
 

„Eine Sojamilch beispielsweise fällt in vielen solcher Systeme mit einem panierten Nugget in eine Kategorie und das obwohl solche Produkte auf einer Gesundheitsskala sehr unterschiedliche Eigenschaften haben.“ 
 

Allein der Verarbeitungsgrad entscheidet hier über die negative Bewertung beider Produkte. 

Aber: Verarbeitung ist nicht immer ein Indiz für ein ungesundes Produkt. Es sei zwar nicht zu bestreiten, dass einer hoher Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln wie Fast-Food und typischen Convenience-Produkten mit vielen Krankheitsbildern in Verbindung stehe, erklärt Bohlmann. Der Expertin zufolge ist es allerdings notwendig, alte Denkmuster und etablierte Bewertungs­systeme aufzubrechen und bei der Bewertung von Lebensmitteln den Blick auf ihre Nährstoffe und nicht allein auf ihren Verarbeitungsgrad zu lenken. Das erfordere in erster Linie Forschung. Denn: „Die meisten biochemischen Erkenntnisse stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und haben deshalb für solche neuartigen Bewertungssysteme keine Validität.“ Es fehle zudem an hochwertigen Studien, um die tatsächlichen Einflüsse von hochverarbeiteten Lebensmitteln auf die Gesundheit einschätzen zu können, so Bohlmann. 

Verbrauchersorgen ernst nehmen

In einem kürzlich veröffentlichten Whitepaper appelliert planteneers daher an Entscheider der Lebensmittelindustrie, Verbrauchersorgen ernst zu nehmen, Klassifizierungssysteme neu zu denken und so umzustrukturieren, dass gesunde Alternativen nicht länger nur als hochverarbeitet und somit als ungesund abgestempelt werden.

Ernährung – ganz individuell

Was genau ungesund bedeutet, unterscheidet sich jedoch von Person zu Person: Für manche ist es beispielsweise ein Apfel, für manche ein Keks, der den Blutzuckerspiegel besonders in die Höhe treibt. Solche inter-individuellen Unterschiede bilden die Basis des Konzepts „Personalisierte Ernährung“, mit dem sich Prof. Dr. Christina Holzapfel intensiv auseinandersetzt. Dass verschiedene Menschen unterschiedlich auf gleiche Lebensmittel reagieren, hänge von diversen Faktoren ab, wie beispielsweise der Genetik, dem Mikrobiom im Darm oder dem individuellen Stresslevel, erklärt Holzapfel. In diversen Studien wurden diese Aspekte einzeln betrachtet. Das Ergebnis: Eine an sie angepasste und somit individuelle Ernährung bietet viele gesundheit­liche Vorteile. Die gesammelten Daten über genetische Beschaffenheit, Stress, Schlafqualität und weiteres wurden dabei ausgewertet und unter Berücksichtigung individueller Ziele (Gewichtsverlust, Leistungssteigerung) genutzt, um an die Einzelperson angepasste Ernährungsempfehlungen geben zu können.

Der Ansatz, gesunde Ernährung nicht länger vom Lebensmittel an sich zu denken, sondern vom konsumierenden Individuum her bietet Holzapfel zufolge großes Potenzial, beispielsweise in Bereichen wie der Kranken- und Seniorenpflege, wo es besonders auf Ernährungsbedürfnisse einzugehen gilt. Aber auch bei der Realisierung einer nachhaltigeren Ernährung könne das Konzept unterstützen. 

Tools wie Smartwatches oder Glukosemesser seien dabei von großem Vorteil:
 

 „Der Mensch und sein Verhalten ist die größte Datenplattform schlechthin.“ 


Und dennoch: Kein bisher entwickeltes Ernährungskonzept versammele alle auf dieser „Plattform“ gespeicherten Aspekte an einem Ort. Das allerdings wäre das Ziel: „Die gesamte Palette an Aspekten zu nutzen, die uns als Daten zur Verfügung stehen“, so Holzapfel. Es zeigt sich also auch hier großer Forschungsbedarf und auch die Notwendigkeit der Aufklärung. Denn bei einem emotionalen „Luxus-Thema“ wie Ernährung kann nur das als chancenreicher Ansatz gelten, was von Konsumenten nachvollzogen werden kann.

Prof. Dr. Christina Holzapfel setzt sich für mehr Aufklärung in der Humanernährung ein.

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