Food Fraud
Lebensmittelverfälschungen: Möglichkeiten und Chancen zur Risikominimierung in komplex vernetzten Wertschöpfungsketten
DLG-Expertenwissen 11/2018
1. Auflage, Stand 11/2018
- 1. Terminologie und Begrifflichkeiten
- 2. Positionierung zu anderen Elementen der Lebensmittelintegrität
- 3. Liste der am häufigsten verfälschten Lebensmittel
- 4. Kategorisierung von Verfälschungen – „Verfälschungsquadrant“
- 5. Rechtliches Umfeld – Integrierende Standards (BRC und IFS)
- 6. Risikoabwehr und Risikoprävention
- 7. Ausblick
- Literatur
Man möchte eine Publikation zum Thema „Food Fraud“ einleiten mit den Worten: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Food Fraud“. Die enorm angewachsene, aufgeregte mediale Präsenz des Themas in den letzten Jahren sowie die oft unreflektierte und inkonsistente synonymische Verwendung der Begriffe „Food Fraud“, „Lebensmittelbetrug“ sowie „Verbrauchertäuschung“ und „-irreführung“ in nahezu jedem lebensmittelbezogenen Kontext durch verschiedene Organisationen, Institutionen und zum Teil auch Unternehmen der Lebensmittelindustrie führen zu einer ansteigenden Verunsicherung nicht nur der Verbraucher, sondern auch der Teilnehmer der inzwischen sehr komplexen und arbeitsteiligen Wertschöpfungskette für Lebensmittel.
In Realitas ist die Verfälschung von Lebensmitteln so alt wie die Menschheit, auch wenn „Skandale“ der jüngeren Vergangenheit etwas anderes suggerieren mögen. Allerdings wird die Brisanz des Themas verstärkt durch die Globalisierung und Fragmentierung von Warenströmen und Veredlungsstufen zum einen und das Verlangen des Verbrauchers und seiner Vertretungen nach vollständiger Transparenz zum anderen. Kombiniert wird dies mit neuen kreativen Formen des Verfälschens auf der einen Seite und neuen kreativen Methoden des analytischen Nachweisens auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund ist eine möglichst praxisnahe und realistische Aufarbeitung der Risikowelt sicher angezeigt, um mit den notwendigen Werkzeugen das Risiko des unbeabsichtigten und unerkannten „Durchreichens“ von Verfälschungen wirksam absenken zu können.
Mit dem nachfolgenden Expertenwissen sollen in kompakter Form Transparenz geschaffen und Strategien für eine praktische Risikoabwehr und -prävention gegeben werden.
1. Terminologie und Begrifflichkeiten
Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) muss bei der Antwort auf die Frage „Was ist Lebensmittelbetrug?“ auf seiner Internetpräsenz bekennen1:
Unter Lebensmittelbetrug versteht man im Allgemeinen das Inverkehrbringen von Lebensmitteln mit dem Ziel, durch vorsätzliche Täuschung einen finanziellen oder wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen.
[...]
Die Sichtweisen der europäischen Mitgliedstaaten hierzu (Anmerkung: zur Definition von „Food Fraud“) sind unterschiedlich. Dies ist ein Grund dafür, dass es derzeit in der europäischen Gesetzgebung noch keine einheitliche rechtliche Definition des Begriffs „Food Fraud - Lebensmittelbetrug“ gibt.
In der deutschen Gesetzgebung ist der Begriff „Betrug“ im Strafgesetzbuch sehr genau definiert und seine Anwendbarkeit im Sinne einer Straftat detailliert umschrieben. Demgegenüber ist die (arglistige) „Täuschung“ ein unbestimmter Begriff des Zivilrechts und damit eher eine Ordnungswidrigkeit. Im hier diskutierten Themenkomplex sind die Grenzen fließend, die Bewertung, ob Straftat oder Ordnungswidrigkeit ist im Zweifel einzelfallbezogen durch Juristen vorzunehmen. Daher verwendet die vorliegende Publikation durchgängig den Begriff der „Lebensmittelverfälschung“. Dieser ist als Kollektivbegriff zu verstehen, der insbesondere die Elemente der bewussten und vorsätzlichen
- Substitution wertgebender Inhalte durch minderwertige Stoffe,
- Streckung wertgebender Inhalte,
- Manipulation des Lebensmittels jeglicher Art,
- Fehldeklaration des Lebensmittels und seiner Zutaten und Inhaltsstoffe,
- irreführenden Aufmachung,
- Dokumentenfälschung zum Zwecke der Verschleierung von Herkunft und/oder Authentizität
überwiegend zur Erzielung einer betriebswirtschaftlichen Verbesserung des Täters umfasst.
2. Positionierung zu anderen Elementen der Lebensmittelintegrität
Lebensmittelverfälschung ist eine der vier gebräuchlichen Komponenten der Lebensmittelintegrität und inzwischen gleichwertig angesehen zu Lebensmittelqualität, -sicherheit und -schutz. Die vier Themenkomplexe lassen sich in der Praxis nicht scharf voneinander trennen und überlappen sich inhaltlich. (Vgl. Abbildung 1)
Gewöhnlich unterstellt man den „Tätern“ ein kommerzielles Interesse, womit Qualität und insbesondere Sicherheit im Fall einer Verfälschung nicht notwendigerweise in Mitleidenschaft gezogen sind (z. B. Bio/Nicht-Bio, Wildfang/Aquakultur, regionale Herkunft). Für einige Verfälschungstaten der jüngeren Vergangenheit reichen die Auswirkungen bis in die Lebensmittelqualität (z. B. Umetikettieren von Fleisch nach dem Verbrauchsdatum) und sogar in die Lebensmittelsicherheit hinein. Prominentes Beispiel für letzteres ist der Melaminskandal: Die Versetzung von Protein-Premixen für Säuglingsnahrung zwecks Vortäuschung eines höheren Proteingehalts führte zu schwersten Nierenerkrankungen bei fast 300.000 Säuglingen und mindest sechs linear kausal nachgewiesenen Todesfällen.
Eine Verfälschung, Kontamination oder Sabotage von Lebensmitteln mit dem Ziel, Unternehmen oder auch Menschen zu schädigen, kann idiologisch oder auch terroristisch motiviert sein und reicht in den Themenkomplex Lebensmittelschutz (Food Defense) hinein.
Im Folgenden wird unterstellt, dass Verfälschung von Lebensmitteln zum Zwecke der Erhöhung der betriebswirtschaftlichen Marge oder aus sonstigen monetären Motiven erfolgt.
3. Liste der am häufigsten verfälschten Lebensmittel
In einer Veröffentlichung von Spink et.al.2 werden bekannte Fälle von Lebensmittelverfälschungen in den Jahren 1980 bis 2010 analysiert und Warengruppen-bezogen statistisch ausgewertet. Im Rahmen eines Berichts des Europäischen Parlaments vom Dezember 20133 werden diese Daten mit Angaben von Einzelhandels- und Branchenverbänden plausibilisiert und in folgende Liste der Lebensmittel mit dem höchsten Verfälschungsrisiko überführt (in Klammern: Auszug bekannter Beispiele für Verfälschungen):
- Olivenöl: (falsche Herkunftsangabe, Vermischung mit Altbeständen, Strecken mit Soja-, Mais-, Sonnenblumen-, Haselnuss-Öl etc.)
- Fisch: (falsche Spezies, Aqua-Kultur für Wildfang, in prozessierten Fischgerichten Beimengung von Soja-Protein)
- Bio-Lebensmittel: (Vermischung mit konventionell angebauten Produkten)
- Milch: (Streckung mit Pflanzenölen und Wasser, Vermengung mit Fremdproteinen und Protein vortäuschenden Substanzen z. B. Melamin)
- Getreide: (falsche Sorte, Sortenreinheit, falsche Herkunft, Anbauverfahren, Streckung mit Fremdsubstanzen bei Mehl)
- Honig und Ahornsirup: (Streckung mit Invertzucker-Sirup oder Saccharose-Sirup, Zugabe von Zucker und Wasser)
- Kaffee und Tee: (Kaffee: Herkunft, Sorte, Streckung mit geröstetem Mais, Streckung mit Malz oder Hülsenfrüchten; Tee: Herkunft, Sorte, Streckung mit benutzten Teeblättern, Vermischen mit gefärbten Sägespänen, Strecken mit wertlosem Stengelmaterial)
- Gewürze: (Chili: Streckung mit Ringel- und Studentenblumenblättern, Sandelholz-Spänen, eingefärbtem Gras, Fasern von Roter Beete oder Granatapfel, Einfärben mit gelben und roten Farbstoffen)
- Wein: (Herkunft, Reinheit, Jahrgang, Zusatz von Wasser, Zucker, Ethylenglykol, falsche Etikettierung)
- Obstsäfte: (z. B. Orangen- und Apfelsaft: Zusatz artfremder Fruchtsäfte, Vortäuschung „frischgepresst“ durch Trübungsmittel, Streckung mit Wasser und Zucker, Zusatz synthetischer Aromen und Geschmacksstoffe sowie von Farbstoffen)
4. Kategorisierung von Verfälschungen – „Verfälschungsquadrant“
Verfälschungen an einem Produkt können in vielfältiger Weise und auch in Kombinationen von „Methoden“ vorgenommen werden. Für effektive Abwehr- und Präventionsstrategien ist es entscheidend, sich in einer konsistenten Systematik zu bewegen, da a) die zur Verfügung stehenden Instrumente an unterschiedlichen Stellen angreifen und b) die Möglichkeiten für Verfälschungen so zahlreich sind, dass es angeraten ist – zumindest beim Aufbau von Abwehrsystemen – eine Priorisierung nach geeigneten Kriterien vorzunehmen.
Eine pragmatische und gebräuchliche Einteilung von Verfälschungsmethoden und -praktiken erfolgt über die Bewertung, ob entweder Manipulationen am Endprodukt vorgenommen werden (Produktmanipulation) oder das Produkt durch geeignete Eingriffe im Herstellungsprozess manipuliert wird (Prozessmanipulation). Kombinationen sind denkbar und zum Teil notwendig zur Deckung einer Verfälschung. Je nach konkretem Verfälschungstatbestand geht vom verfälschten Produkt eine mehr oder weniger große gesundheitliche Bedrohung für den Endverbraucher aus. Eine „Staffelung“ nach Gefährdungspotenzial ist eine weitere Dimension der Einteilung, so dass sich Verfälschungsmethoden in einem Quadranten darstellen lassen. (Vgl. Abbildung 2)
5. Rechtliches Umfeld – Integrierende Standards (BRC und IFS)
Grundlage für alle Regelungen im Umfeld Lebensmittelintegrität ist die „Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit4“. Hier heißt es im Kapitel II (Allgemeines Lebensmittelrecht) in Artikel 8 (Schutz der Verbraucherinteressen) explizit:
(1) Das Lebensmittelrecht hat den Schutz der Verbraucherinteressen zum Ziel und muss den Verbrauchern die Möglichkeit bieten, in Bezug auf die Lebensmittel, die sie verzehren, eine sachkundige Wahl zu treffen. Dabei müssen verhindert werden:
a) Praktiken des Betrugs oder der Täuschung,
b) die Verfälschung von Lebensmitteln und
c) alle sonstigen Praktiken, die den Verbraucher irreführen können.
Alle in diesem Kontext stehenden Gesetze, Regelungen, Kontrollvorschriften, Richtlinien sind aus dieser Verordnung abgeleitet. Die entstehende Rechtslage in Bezug auf die Lebensmittelverfälschung (im europäischen Sprachgebrauch „Food Fraud“) ist heterogen und fragmentiert. Eine europarechtlich harmonisierte Regelung zu „Food Fraud“ existiert nicht, da die rechtliche Regelung von Straf- und Sanktionsmaßnahmen in die Hoheit der EU-Mitgliedsstaaten fällt und der europäische Gesetzgeber lediglich fordern kann, dass die Mitgliedsstaaten entsprechende rechtliche Regelungen formulieren. Gleichwohl existiert eine Reihe von umschreibenden Vorschriften, die europäisch vereinheitlicht formuliert sind. Diese sind unter anderem zu finden:
- im Kapitel II, Artikel 16 der Verordnung (EG) Nr. 178/20023: Verbot der Irreführung durch Aufmachung eines Lebensmittels,
- im Kapitel III, Artikel 7 der Verordnung (EU) Nr. 1169/20115: Lauterkeit der Informationspraxis,
- im Abschnitt 2, §11 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs6: Vorschriften zum Schutz vor Täuschung.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority EFSA) ist die Institution, die für die Mitgliedsstaaten Regelungen im Kontext von Produktionshygiene, Deklaration, Sicherheit und Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln auf Gemeinschaftsebene zusammenführt.
Auf europäischer und auch nationaler Ebene werden die zum Teil abstrakten Regelungen durch weitere Verordnungen flankiert, welche für genauer definierte Sachverhalte Anwendung finden. Hierunter fallen z. B.:
- die Lebensmittelhygieneverordnung Verordnung (EG) Nr. 852/20047, welche die Anwendung eines HACCP-Systems als zentrale Anforderung enthält,
- die Verordnung (EG) Nr. 853/2004 zu spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs8,
- die Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel9,
- die Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung (Tier-LMHV)10 u. v. a. m.
Thematisch überschneiden und vermischen sich die nationalen und europäischen gesetzlichen Regelungen, und zum Teil bauen sie aufeinander auf oder referenzieren sich gegenseitig, was für die konsistente Umsetzung durch Unternehmen eine Herausforderung darstellt, zumal die zugrunde liegenden Texte zum Teil sehr formal und abstrakt sind und konkrete Implementierungshinweise fehlen lassen.
Einschlägige Standards und verbundene Qualitätsmanagementsysteme unternehmen den Versuch, gesetzliche Anforderungen und Elemente der Sicherheit sowie deren praktische Umsetzung bei den Teilnehmern der Wertschöpfungskette zu integrieren, Anforderungen besonders des Endverbrauchers zu standardisieren und die Lebensmittelintegrität pragmatisch mit Hilfe sehr detaillierter Anforderungs- und Prüfungslisten sicherzustellen. Die Durchdringung der Lebensmittelproduktions- und -veredlungsindustrie insbesondere im Bereich der Eigenmarken ist so vollständig, dass mit Ausnahme vielleicht von mittelständischen Produzenten regionaler Waren nahezu jeder Hersteller diesen Standards unterworfen ist.
Treiber für die Etablierung dieser Standards in Europa ist – als letztes Element der Wertschöpfungskette und als Inverkehrbringer für den Großteil der produzierten Waren – der Lebensmitteleinzelhandel (LEH), z. B. vertreten durch den Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE)11 und durch das angelsächsische Pendant, das British Retail Consortium (BRC)12. Die wesentlichen aktuellen Standards sind der „BRC Global Standard for Food Safety Version 7“13 (BRC Food 7) sowie der „International Featured Standard Version 6“ (IFS Food 6).
Formal unabhängig von geistigem Eigentum einer bestimmten Interessensvertretung ist die auf der ISO 22000 aufsetzende Norm „Food Safety System Certification 22000“ (FSSC 22000), die Anfang 2017 in der Version 4 veröffentlicht wurde.
Organisationen wie insbesondere die Global Food Safety Initiative (GFSI) bemühen sich, Managementsysteme für Lebensmittelsicherheit und Lebensmittelintegrität mittels eines übergeordneten Anforderungskatalogs (GFSI Guidance Document) vergleichbar zu machen und werben für gegenseitige Ankerkennung. Die GFSI stellt u. a. die Gleichwertigkeit von FSSC 22000 V4, BRC Food 7 und IFS Food 6 fest. Für Lieferanten von Eigenmarkenprodukten für den deutschen Lebensmitteleinzelhandel (LEH) ist derzeit der IFS Food 6 bzw. seine abgeleiteten Varianten am meisten verbreitet.
Obwohl Schutz vor Lebensmittelverfälschung und deren Sanktion in den Gesetzen und Verordnungen im Prinzip angelegt, gefordert und vorgedacht sind, konzentrieren sich aktuelle Qualitätsmanagement-Systeme und Standards noch überwiegend auf Lebensmittelqualität und Lebensmittelsicherheit und in Teilen auch auf Lebensmittelschutz (Food Defense), d. h. auf Spezifikationen, Auslobungen, Deklarationen und Konformität der Rohwaren und Endprodukte mit den Regelungen, Konventionen und Verordnungen insbesondere zur Festlegung von Grenzen für mikrobiologische Belastungen, Kontaminationen und Rückständen. Erst die Ergänzung des IFS Food 6 vom November 2017 (IFS Food 6.1)14 widmet sich im Kapitel 4 „Planung und Herstellungsprozess“, Abschnitt 4.21 „Lebensmittelbetrug (Food Fraud)“ rudimentär dem Schutz vor Lebensmittelverfälschung. Es heißt in 4.21:
- Es ist eine dokumentierte Verwundbarkeitsanalyse („Vulnerability Assessment“) für alle Rohmaterialien, Zutaten, Verpackungsmaterialien und ausgelagerte Prozesse durchgeführt, um die Risiken in Bezug auf Austausch, Falschetikettierung, Verfälschung oder Imitation zu ermitteln. Die Kriterien für die Verwundbarkeitsanalyse sind dokumentiert.
- Ein dokumentierter Plan zur Verminderung von Lebensmittelbetrug liegt vor und ist umgesetzt, um alleidentifizierten Risiken zu steuern. Dieser Plan bezieht sich auf die Verwundbarkeitsanalyse. Die Methoden der Kontrolle und Überwachung sind identifiziert und umgesetzt.
- Im Falle eines erhöhten Risikos wird die Verwundbarkeitsanalyse überprüft. Generell wird die Verwundbarkeitsanalyse mindestens jährlich überprüft. Die Kontroll- und Überwachungsverfahren des Plans zur Verminderung von Lebensmittelbetrug werden, wenn erforderlich, überprüft und angepasst.
Konkrete Kriterienkataloge oder Hilfestellungen zur systematischen Zerlegung des Gesamtrisikos in besser beherrschbare Teilrisiken werden im Standard nicht gegeben. Lediglich abstrakte Themenkomplexe zur Bewertung von Risikoexpositionen werden angeführt:
- Historie zu Lebensmittelbetrugsvorfällen,
- ökonomische Faktoren,
- erleichterte Möglichkeit für betrügerische Tätigkeit,
- Komplexität der Lieferkette,
- aktuelle Kontrollmaßnahmen,
- Vertrauen in Lieferanten.
Die Inkraftsetzung des IFS Food Standards 6.1 zum 01. Juli 2018 erfordert von den Unternehmen enorme Anstrengungen, um den Auditoren einen robusten Plan zur Risikominderung vorlegen zu können.
6. Risikoabwehr und Risikoprävention
In vielen Publikationen und Vorträgen wird die physikalisch-chemische Analytik zur Bekämpfung und Abwehr von Lebensmittelverfälschung in den Vordergrund gestellt. Dies greift aber (viel) zu kurz: wenn die Analytik "anschlägt“ – wenn sie es denn belastbar genug tut und der Interpretierende auch die Courage hat, dies zu artikulieren – ist alles schon gelaufen. Ein u. U. nicht verkehrsfähiges oder sogar gefährliches „Lebensmittel“ ist produziert, wertvolle Rohwaren unwiederbringlich verschwendet, Vertrauen in Personen, Unternehmen, Namen, Marken, Produkte, Länder erschüttert. Im Sinne einer Qualitätssicherung unterstützt die Labor-Analytik einen Sortier- und Selektionsprozess und damit eine ggf. notwendige Korrekturmaßnahme: z. B. Sanktionen wie Vertragsstrafen für den Lieferanten, Androhung der Auslistung, Wechsel zu Alternativlieferanten zwecks Sicherstellung der Verfügbarkeit usw..
Eine wirksame Vorbeugemaßnahme und Präventivstrategie setzt viel früher und vor allem anders an. Sie fragt nach Motivation, möglichem „Täterprofil“, Technik und Ausführung der Verfälschung und – am Ende – der Auswirkung der Verfälschung, die möglicherweise mit Hilfe einer geeigneten Laboranalytik zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Nur mit Hilfe eines umfassenden Ansatzes versetzt sich der Unternehmer in die Lage, Möglichkeiten für Verfälschungen der von ihm verwendeten Produkte überhaupt systematisch erkennen und entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. Auf bekannte Skandale in der Retrospektive abzustellen, hilft nur begrenzt und verhindert nicht das unbeabsichtigte Weiterreichen von kreativen neuen Verfälschungen.
6.1 Motivation: warum wird gefälscht – lineare und nicht-lineare Kausalketten
Das Verstehen von Motivationen erfordert ein gutes Verständnis der verwendeten oder gehandelten Produkte möglichst über mehrere Stufen der vorangehenden Wertschöpfungskette hinweg, was insbesondere bei internationalen Lieferketten ein Wissen ist, welches sich ein Unternehmen unter großem Einsatz von Zeit und Ressourcen über viele Jahre aufbauen oder von Dienstleistern beschaffen muss.
Das Verständnis der Produkte und Waren beinhaltet nicht nur die Technologie, die qualitätssichernden Maßnahmen für Vorprodukte und innerhalb des Produktionsprozesses, die Zertifikatslage, die kausale Abhängigkeit von externen Faktoren usw., sondern auch und insbesondere das Umfeld des Lieferanten in den Dimensionen: Kultur, Qualifikation der Schlüsselpersonen, Finanzsituation, politisches Umfeld.
Die einfachste Motivation für Verfälschung und damit die kürzeste lineare Kausalkette ist die Gier nach zusätzlicher Marge. Besonders Produkte, für die Endverbraucher bereit sind, hohe Preise zu zahlen, sind spektakulär gefährdet, z.B. gestreckt oder falsch deklariert zu werden. Virtuell alle Warengruppen können betroffen sein, darunter natürlich die oben genannten „Top 10“: Edelfisch, Fleisch, Öle, Weine, Spirituosen, Käse, Essige, Honig, Herkunftskakao, -kaffee, -tee, Gewürze usw., aber auch Volumenprodukte wie Babynahrung mit den bekannten Verfälschungen mittels Substitution eines wertgebenden Bestandteils durch eine minderwertige chemische Substanz. Die resultierende analytische Fragestellung ist die nach Authentizität (Herkunft, Jahr, Sorte, Spezies), Menge und Anteile sowie Reinheit (keine Streckungsmittel).
Eine weitere wesentliche Motivation ist die „Erhöhung“ der verfügbaren Menge bei Waren und Rohstoffen mit hoher Nachfrage aber schwankenden Verfügbarkeiten. Häufig begleitend auftretende Faktoren sind Preisdruck und Preisbindung für die betroffenen Produkte. Die einfachsten noch linearen Kausalketten finden sich bei landwirtschaftlichen Produkten, z.B. bei Getreide, Früchten, Nüssen, Oliven. Ernteerträge können heute sehr zuverlässig mit Zeitreihen für Temperatur und Niederschlag in Verbindung gebracht und vorhergesagt werden. Frost im Frühjahr während der Blüte von Hasel und Aprikose in der Türkei (als ein wesentliches Erzeugerland) wird Knappheit von Hasel und Aprikose im Herbst bedeuten. Lang andauernde Hitze und lange Sommer während der Reifung der Olive kann eine sekundäre Population eines Schädlings begünstigen, der entweder die brauchbare Erntemenge stark reduziert oder zu unplanmäßigem Insektizideinsatz verleitet mit u.U. nicht ausreichender Wartezeit bis zur Ernte. Für den Getreideanbau im 40. bis 55. Breitengrad sind Niederschlagsverteilungen und Temperaturen im ersten Quartal und im Juni entscheidend für das Ernteergebnis15. Analytisch wird man auch hier die Reinheit sicherstellen (Streckung) sowie Qualitätsparameter abprüfen (Hinweise auf minderwertige oder ungeeignete Ware, Kontaminanten, Mykotoxine, Ranzigkeit, sensorische Auffälligkeiten wie z.B. Röstnoten bei „frischem“ Haselnussmehl), ebenso Rückstände von Pestiziden (konventionell für Bio, unzureichende Wartezeiten).
ie Motivation für eine Lebensmittelverfälschung kann auch in einer existenzbedrohenden Situation des Täters begründet sein. Die zugrundeliegenden Kausalketten hängen nicht notwendigerweise mit „Lebensmitteln“ zusammen und sind daher indirekt oder nicht-linear. Die Erläuterung erfolgt mit Hilfe von zwei fiktiven, frei erfundenen Beispielen:
Fiktives Beispiel 1:
In einem agrarwirtschaftlich geprägten Land mit mehr als 40 % der Landflächen in landwirtschaftlicher Nutzung, besonders durch Familienunternehmen, wird Ackerbau noch traditionell und unter Einsatz von Pferden zum Ziehen landwirtschaftlicher Geräte betrieben. Das Land hat einen hohen Exportanteil an landwirtschaftlichen Produkten in Industrieländer mit Großabnehmern. Dem Trend eines verbesserten Tierschutzes folgend verlangen diese Großabnehmer nun den Verzicht auf den Einsatz von Pferden in der Produktion der abgenommenen Waren. Die Einhaltung der Anforderung wird in unangekündigten Audits überprüft, fehlende Konformität wird mit harten Sanktionen belegt. Eine Negativspirale beginnt: Um die Produktionsabläufe zu technisieren, wird Liquidität benötigt. Für diese müssten die Abnehmer die traditionell mittels Tiereinsatz produzierte Ware annehmen, was sie nicht tun. Banken sehen ein großes Risiko und lehnen Finanzierungen ab. Die nicht mehr einsetzbaren Pferde werden zu einer reinen Verbindlichkeit und einem zusätzlichen Kostenfaktor.
Den Ausweg bringt eine namenlose Organisation, die über viele Umwege Kontakte in die fleischverarbeitende Industrie hat. Diese Organisation bietet den vor dem Aus stehenden Landwirten an, die Arbeitspferde für einen Bruchteil ihres eigentlichen Wertes abzunehmen und einzutauschen gegen gebrauchte Traktoren mit rudimentärem Zubehör. Eine Vielzahl von Tauschgeschäften findet statt, der Handel mit den Großabnehmern – nun voll konform – kommt wieder in Schwung. Über den Verbleib der Pferde besteht Unklarheit, sie waren natürlich nicht „getagged“ und damit rückverfolgbar, niemand fragt auch nachdrücklich danach.
Fiktives Beispiel 2:
In einem Land mit regional starker Milchwirtschaft wird in einer bestimmten Region mit traditionellen Methoden ein bestimmter Käse handwerklich gefertigt. Ein besonderes Qualitätsmerkmal des Käses ist die Verwendung regional ökologisch produzierter Rohstoffe und die preisbestimmende, genau festgelegte lange Reifezeit von – je nach Qualität – bis zu mehreren Jahren. Seit einiger Zeit hat der Discounter-LEH das Produkt als Premium-Artikel für sich entdeckt und fragt große Mengen nach – natürlich mit Preisvorstellungen, die eine Teil-Technisierung des Käse-Herstellungsprozesses sowie eine wesentliche Aufstockung der kontrollierten Lagerkapazitäten erfordern. Die lokalen Banken unterstützen die Phase bereitwillig mit großzügigen Krediten. Das Geschäft entwickelt sich für die Käseproduzenten großartig mit hohem Zufriedenheitsgrad bei den Abnehmern, bis ... Geldautomaten der lokalen Banken „vorübergehend ausser Betrieb“ sind und Überweisungen von Verbindlichkeiten gegenüber z.B. den Milchlieferanten trotz Guthabens auf dem Konto nicht ausgeführt werden. Es stellt sich schnell heraus: die Banken haben keine Liquidität mehr und sind pleite und mit ihnen die Kunden, die eben diese Liquidität dringend benötigen, um das laufende Geschäft und den Lebensunterhalt weiter zu finanzieren. Eine neue Möglichkeit muss gefunden werden, Geld einzunehmen und dieses auf einer soliden Bank zu verwenden.
Den Ausweg bringt eine Neuevaluierung des enormen gebundenen Kapitals, welches in riesigen Lagerhäusern in Form reifenden Käses zum Auslieferdatum hin blockiert ist. Bei genauerer Betrachtung ist die vorgeschriebene Reifezeit lediglich über die Dokumentation nachzuweisen, und zwischen einem Käse, der die vorgeschriebenen 24 Monate gereift ist und einem, der bereits nach z.B. 19 Monaten verkostet wird, besteht sensorisch kein wahrnehmbarer Unterschied über die natürliche „Streuung“ hinaus. Warum also nicht in der Not ein Äquivalent von fünf Monaten Produktion vor Ablauf der Reifung zur Wiederherstellung von Liquidität verwenden und eventuell auftretende Kundenreklamationen aus der „eisernen Reserve“ vollständig gereifter Ware bedienen?
Beiden fiktiven Beispielen gemeinsam ist a) ein indirekter Auslöser für Lebensmittelverfälschung und b) das Fehlen eines unmittelbaren erlösverbessernden Anreizes. Die Aufklärung solcher nicht-linearer Kausalketten und Nutzung zur Risikoerkennung und vorbeugenden Risikoabwehr ist aufgrund der Vielzahl denkbarer Auslöser aufwändig, erfordert viel Erfahrung, Instinkt, Kreativität und ein enormes Maß an Interdisziplinarität, denn die Muster solcher Vorfälle ähneln stark „Disastern“ in anderen, nicht mit der Herstellung von Lebensmitteln verbundenen Industrien. Diese Expertise liegt in Unternehmen in der Regel nicht vor, kann aber von Dienstleistern in Anspruch genommen werden.
6.2 Täterprofil: wer fälscht und welche Methoden werden angewendet
Alle denkbaren „Fälschertypen“ und Methoden an dieser Stelle aufzählen zu wollen, wäre vermessen und auch nicht zielführend. Bereits bekannte Verfälschungstechniken, insbesondere in den oben genannten „Top 10“ Produktgruppen, werden immer wieder versucht und lassen sich durch gute Warenkunde, strenges Lieferanten- und Spezifikationsmanagement sowie durch angepasste zielgerichtete physikalisch-chemische Laboranalytik gut verhindern und abfangen. Der Grad an Restrisiko hängt in letzter Konsequenz nur vom Budget für Reisekosten, für unangekündigte Audits und für die Laboranalytik ab.
Eine bestimmte Klasse von Tätern bedarf aber einer besonderen Betrachtung, nämlich Täter mit Kenntnissen in der Laboranalytik und der Interpretation von Analyseergebnissen. Hier sind zwei Täuschungsmechanismen grundsätzlich zu unterscheiden:
Mechanismus 1: Täuschung der Analytik
Diese potentielle Tätergruppe hat genaue Kenntnis der verwendeten gebräuchlichen Methoden zur Bestimmung und auch Quantifizierung typischerweise kostentreibender wertgebender Bestandteile eines Lebensmittels und nutzt diese Kenntnis zur Täuschung z.B. durch Substitution des wertgebenden Bestandteils mit minderwertigen Substanzen. Besonders gefährdet sind Inhaltsstoffe und Rezepturanteile, deren Bestimmung indirekt erfolgt, weil der direkte Nachweis z.B. zu kostspielig oder vielleicht sogar gar nicht möglich ist.
Beispiel: der Gehalt an wertgebendem Protein in einem Lebensmittel oder einer Vorstufe hiervon wird mit dem Kjeldahl-Verfahren16 oder verwandter abgeleiteter Verfahren ermittelt. Im Wesentlichen wird die Probe mit einer selbstbewussten Chemikalie – nämlich konzentrierter Schwefelsäure – aufgeschlossen, der gebundene Stickstoff mit Hilfe von NaOH in freies Ammoniak überführt und anschließend titriert. Die Methode ermittelt den Stickstoffgehalt in der Probe. Unter der Annahme, dass der Stickstoff aus dem Protein (mit durchschnittlichem Stickstoffgehalt von z.B. 16 %) stammt, kann auf den Proteingehalt mittels eines Faktors (z.B. 6,25) auf die Proteinmenge zurückgerechnet werden. Der Faktor stützt sich auf Literaturwerte und hat eine erhebliche Spannweite. Diese Methode zur quantitativen Proteinbestimmung ist omnipräsent.
Nahezu jede organische Substanz, die Stickstoff enthält und sich in Schwefelsäure aufschließen lässt, kann prinzipiell als Protein-Substitut dienen, ohne dass dies in der verwendeten Analytik bemerkt werden könnte. In 2008 wurden in China Milchprodukte, insbesondere Babynahrung gefunden, in denen mit Hilfe von Melamin C3H6N6, einem Grundstoff für die Kunstharzproduktion, ein höherer Proteingehalt als tatsächlich im Produkt vorhanden vorgetäuscht wurde. Melamin ist in Wasser löslich, wird in Form eines weissen Pulvers geliefert und ist einfach unterzumischen. Sein Preis beträgt einen kleinen Bruchteil des Preises von Protein-Premixen oder reinen Protein-Rohstoffen und täuscht selbst bei geringen Konzentrationen einen höheren Proteingehalt vor. Die oben beschriebenen nasschemischen Verfahren konnten die Verfälschung nicht aufdecken. Erst breit auftretende schwerste Nierenerkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern führten letztendlich zur Aufklärung der heute als „Melamin-Skandal“ bekannten breit angelegten Lebensmittelverfälschung. Die „fachlichen“ Köpfe der Täterschaft hatten vertiefte Kenntnis in der Milchwirtschaft und betrieben sogar ein chemisches Labor (eigentlich zur Qualitätssicherung), um den Effekt einer Melaminbeimengung in Milch auf das analytische Ergebnis zu studieren und im negativen Sinne eine „geeignete“ Dosierung zu finden 17, 18.
Der Nachweis einer Verfälschung oder Kontamination mit Melamin erfordert gesondert entwickelte analytische Methoden (typisch: LC-MS/MS), die zielgerichtet nach Melamin und strukturell verwandten Molekülen wie Cyanursäure, Ammelin oder Ammelid suchen, aber für andere Stickstoff liefernde Substanzen nicht oder nur unzuverlässig funktionieren. Das Kjeldahl-Verfahren bleibt weiter das bevorzugte Verfahren zur (indirekten) Protein-Quantifizierung in Lebensmitteln.
Mechanismus 2: Täuschung der Auswertung von Messergebnissen – Spiel mit Messunsicherheiten
Die potentielle Tätergruppe vertraut auf die Unauffälligkeit von Verfälschungen im Spurenbereich. Besonders gefährdet sind zum einen Produkte, für die große Nachfrage besteht und die in großen Mengen saisonal produziert oder geerntet werden. Substitution wertgebender Bestandteile, Strecken mit unauffälligen Fremdsubstanzen, Verschnitt mit qualitativ minderwertigen aber artgleichen Produkten usw. in geringen Konzentrationen sind übliche Techniken des Verfälschens. Der wirtschaftliche Vorteil berechnet sich über das große Volumen des Produkts, üblicherweise „Container-Ware“. Zum anderen kommen für diese Klasse der Verfälschung aber auch zusammengesetzte Produkte in Frage, die üblicherweise über Spezifikationen, Zutatenlisten und Rezepturen definiert werden. Kleineren „Streuungen“ in den Rezepturen sind sicher unvermeidbar, aber nicht immer sind die Abweichungen von der Nominalrezeptur nach „oben“ und „unten“ gleichverteilt. Im Sinne der Täuschung werden Toleranzen systematisch nach „unten“ ausgenutzt.
Diesen Verfälschungen ist mit Laboranalytik allein kaum zu begegnen. Jedes Messergebnis ist mit einer Messunsicherheit behaftet, welches sich aus der Methode selbst, der Homogenität, der Konsistenz der verwendeten Hilfsstoffe usw. ergibt. Zur Ermittlung der Messunsicherheit gibt es standardisierte Vorgehensweisen, die letztendlich auf stetigen Wahrscheinlichkeitsverteilungen beruhen. Konvention ist die Verwendung der
- einfachen Messunsicherheit: enthält 68,3 % aller Messwerte, sowie der
- erweiterten Messunsicherheit: enthält 95,5 % aller Messwerte.
Überschreitungen von Grenzwerten, Auslastung von Höchstmengen und Spezifikationsverletzungen werden üblicherweise dann als solche beurteilt, wenn das Messergebnis unter Berücksichtigung der erweiterten Messunsicherheit den Referenzwert über- oder unterschreitet. Eine Annäherung an den Referenzwert im negativen Sinne führt in den meisten Fällen nicht zu einer Beanstandung. Die Verfälschung wird nicht bemerkt oder wird zwar vermutet, kann aber mangels „harter“ Daten vermeintlich nicht nachgewiesen werden.
6.3 Auswirkungen von Verfälschungen: Rolle der chemisch-physikalischen Laboranalytik und der Sensorik
Der Nachweis von Verfälschungen im Labor erfolgt über zwei vollkommen unterschiedliche Ansätze:
Ansatz 1: Gerichtete Methoden „targeted analyses“
Die Überprüfung von Waren und Produkten auf bekannte Verfälschungen (d.h. in der Vergangenheit bereits aufgetretene) erfolgt mit gerichteten Analysemethoden („targeted analyses“). Die zugrunde liegende Frage lautet: „Enthält das Produkt die Verfälschung x“. Beispiele für Fragen:
- Enthält diese Fleischzubereitung mehr als 0,05 % Pferdefleisch?
- Enthält dieses Milchpulver Melamin?
- Ist dieses Olivenöl mit Haselnussöl versetzt?
- Stammt dieses Olivenöl aus Italien?
- Enthält dieser als Arabica Kaffee deklarierte Kaffee auch Robusta-Anteile?
- Enthält dieses Bio-Produkt andere als die in (EG) Nr. 834/2007 sowie (EG) Nr. 889/2008 geändert durch (EU) Nr. 2016/673 für den ökologischen Landbau zugelassenen Pestizide?
- Enthält dieses als „frisch“ deklariertes Haselnussmehl Anteile an gerösteten Haselnüssen?
- Enhält dieser Aceto Balsamico di Modena Essigsäure-Anteile aus Zuckerrübe?
- Enthält dieser Honig Anteile von Rohrzucker oder Verzuckerungsprodukten aus Mais?
- [...]
Die optimal zum Einsatz kommende Analytik hängt hier von der konkreten Fragestellung für ein Produkt, eine Rohware, eine Matrix und der Zielsubstanz ab. Das Spektrum der zur Verfügung stehenden Techniken und Methoden ist immens und reicht von einfachen nasschemischen und molekularbiologischen Untersuchungen über konventionelle als auch hochauflösende chromatographische Methoden bis hin zu physikalischen Techniken wie der Analyse von Stabilisotopen-Verhältnissen. Allen Techniken und Methoden gemeinsam ist der retrospektive Charakter: das Labor weiss, wonach es suchen soll. Die Zielsubstanz ist bekannt.
Ansatz 2: Ungerichtete Methoden „non-targeted analyses“
Eine völlig andere Herangehensweise ist die möglichst ungerichtete Suche nach Abweichungen vom optimalen Produkt, ohne diese Abweichungen zunächst näher zu kennen oder zu spezifizieren. Gebräuchliches Procedere ist, ein authentisches und optimales Produkt analytisch möglichst umfassend als Referenz zu charakterisieren (fingerprinting), um dann die Ergebnisse des zu beprobenden Produkts auf charakteristische Übereinstimmung sowie auf deutliche Abweichungen von der Referenz hin zu untersuchen. Wenn die mögliche Verfälschung schon eingegrenzt werden kann und eine geeignete ungerichtete Screening-Methode („non-targeted analyses“) zur Verfügung steht, kann auch direkt die Überprüfung einer Positiv-Hypothese vorgenommen werden. Die zugrunde liegende Frage lautet: „Handelt es sich bei der vorliegenden Probe mit einer Sicherheit > x % um die Substanz y“.
Beispiele:
- Enthält diese Fleischzubereitung außer Rind und Schwein DNA weiterer tierischer Species?
- Handelt es sich um reines Milchpulver?
- Enthält dieser Kaffee wie deklariert nur Arabica Sorten?
- Handelt es sich bei diesem Olivenöl um ein dem Referenzöl gleichwertiges Olivenöl?
- [...]
Mit den ungerichteten Methoden wird der Bereich der etablierten amtlichen Prüfmethoden unter Umständen verlassen, wobei die angewendeten Techniken durchaus robust, vollständig validierbar und auch akkreditierbar sind. Viele der Methoden, insbesondere die auf Kernspinresonanz (NMR) basierenden, benötigen eine Vielzahl authentischer, genau beschriebener Referenzproben zum Aufbau von Referenzdatenbanken. Die Beschaffung einer repräsentativen Zahl ist sehr aufwändig. Diese Datenbanken werden für unterschiedliche Warengruppen von verschiedenen Organisationen, Unternehmen, Laboren und Arbeitsgruppen dezentral aufgebaut und sind in der Regel proprietär. Datenbanken sind u.a. verfügbar für Saft, Wein, Honig und Olivenöl.
Sonderrolle der Sensorik in den ungerichteten Methoden
Die Rolle der Sensorik kann bei der Aufdeckung von Verfälschungen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie kann verstanden werden als eine komplexe, simultane Erfassung und Bewertung zahlreicher, das untersuchte Produkt charakterisierender chemischer Eigenschaften. Im erfahrenen Team konsistent bemerkte und beschriebene Abweichungen und untypische Eigenschaften sind der Startpunkt für konkrete Hypothesen, die dann mit gerichteten Methoden überprüft werden. So hat sich die Sensorik beispielsweise seit langem zur Überprüfung der deklarierten Güteklasse von Olivenölen bewährt.
Im oben genannten fiktiven Beispiel des zu kurz gereiften Käses ist der analytische Nachweis einer Täuschung kaum zu führen. Es gibt heute keine analytische Methode, welche die Reifezeit eines Käses mit ausreichender Genauigkeit bestimmen könnte. Eine vergleichende Sensorik mit (möglichst authentischen) Vergleichsprodukten, durchgeführt durch geschulte und auf Käse konditionierte Testpersonen, ist ein zuverlässiger Weg, Abweichungen vom „optimalen Produkt“ zu bemerken und zu beschreiben. Die Sensorik ist in Verdachtsfällen, bei denen noch Unsicherheit bezüglich der Wahl geeigneter analytischer Methoden besteht, in der Regel der Ausgangspunkt weiterer, nun gezielter Nachforschungen.
Beispiel 1: 1H-NMR als gerichtete Methode für den Authentizitätsnachweis von Olivenöl
Die 1H-NMR Methode kann für Olivenöl mittels des seit Mitte 2017 akkreditierten Eurofins-Profilings Herkunftsangaben für europäische Olivenöle überprüfen19. Die zugrunde liegende Datenbank enthält ca. 1000 authentische Öle aus den Haupt-Anbaugebieten in Italien, Griechenland und Spanien, sortenreinen Ursprüngen (Oliven-Sorten) und Daten über mehrere Ernteperioden hinweg. Mehr als 95 % der Öle können korrekt klassifiziert werden (Kreuzvalidierung). In einer stark vereinfachten Darstellung lassen sich Öle der Herkunftsländer voneinander abgrenzen. (Vgl. Abbildung 3)
Eine gerichtete Fragestellung (Hypothesentest) „ist der Ursprung dieses Olivenöls Italien?“ kann mit dieser Methode und Darstellung zuverlässig beantwortet werden. Anwendung findet die Methode bei wertvollen Herkunfts-Ölen und in frühen Stufen der Wertschöpfungskette zur Überprüfung der Authentizität und Reinheit von Mutterlots. Für Mischungen von zwei herkunftsreinen Ölen verschiedener Ursprungsländer kann die Methode noch zur Anteilsbestimmung herangezogen werden. Für mehr als drei Komponenten kann die Methode heute nicht eingesetzt werden.
Beispiel 2: 1H-NMR als ungerichtete Methode für die Detektierung von Verfälschungen von Olivenöl
Im Volumenhandel werden oft „Blends“ von Olivenölen verwendet, d.h. Mischungen von mehreren Olivenölen unterschiedlicher Herkunft. Nahezu alle „Parameter“ wie Land, Region, Olivensorte usw. können variieren. Diese „Blends“ mittels gerichteter Analysen charakterisieren zu wollen, ist aufgrund der vielen möglichen Freiheitsgrade nicht möglich. Die 1H-NMR Methode bietet aber die Möglichkeit, die Eigenschaften des Musteröls aufzunehmen und daraus eine Referenz zu erstellen. Dieser Vorgang ist viel weniger aufwändig als der Aufbau einer genau beschriebenen Referenzdatenbank, da lediglich der Fingerabdruck des individuellen „optimalen“ Öls aufgenommen wird. In der ungerichteten Analyse werden nun Abweichungen vom „optimalen“ Öl aufgespürt, ohne sie (im ersten Schritt) näher zu charakterisieren.
Die 1H-NMR reagiert ausreichend empfindlich sowohl auf Veränderungen des Blends (also Änderungen der Zusammensetzung der verwendeten Olivenöle) als auch auf die Verwendung von Fremdölen. Für die in Abbildung 4 dargestellten Ergebnisse wurden für die Erstellung der Referenz (blau) zehn Flaschen eines handelsüblichen Blends verwendet. Die Lage der blauen Referenzpunkte ist vom Alter des Öls (Überwachungszeitraum > 6 Monate) nahezu unabhängig. Sowohl ein Zusatz von 10 % oder 20 % eines anderen handelsüblichen Blends als auch eine Verfälschung von 10 % und 20 % durch Fremdöl (z.B. Sonnenblumen- oder Rapsöl) können als Abweichung zweifelsfrei identifiziert werden.
Im ersten Schritt zeigt die 1H-NMR-Methode in dieser Anwendung die unspezifizierte Abweichung von der Referenz an. Eine simultane Bewertung, ob es sich um eine Veränderung des Blends oder den Zusatz von Fremdöl handelt, ist Gegenstand aktueller Methodenentwicklung.
6.4 Best Practice Hinweise zur Risikoabwehr im Betrieb
Zu den etablierten Standards und Normen im Zusammenhang mit Lebensmittelintegrität gibt es viel begleitende Literatur, die bei der Implementierung, Verfeinerung und Optimierung eines bereits implementierten Standards unterstützt. Daher soll auf die Umsetzung eines Standards an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vielmehr sollen praktische Hinweise gegeben werden, wie Prävention vor Lebensmittelverfälschung zum Teil der Unternehmenskultur werden kann. Zusätzlich also zu den sowieso obligatorischen Themen der Standards und Normen einige Tipps.
Grundelemente einer effektiven und weitsichtigen Risikoabwehr sind:
- Ressourcen
- Aufmerksamkeit und Qualifikation
- Neugier
- Kreativität
- Interdisziplinarität
- Ausdauer und Konsistenz
Ressourcen und Konsistenz der Unternehmenswerte
In einer idealen Welt laufen im Unternehmen viele Elemente einer Risikoabwehr in der Routine mit. Oft muss aber Grundlagenarbeit geleistet werden, und auch für Weiter- und Neuentwicklung von Systemen werden Ressourcen benötigt. Die Unternehmensleitung muss diese Freiräume und Ressourcen zur Verfügung stellen, unterstützen und diese Unterstützung durch die Hierarchie kaskadieren. Für Hersteller komplexer Produkte mit internationaler Beschaffung hat es sich bewährt, eine dezidierte Position für die Koordination von Präventionsmaßnahmen einzurichten (Risiko-Manager). Diese Position ist Stabsposition der Unternehmensleitung entweder „stand alone“ oder als Teil der Qualitätssicherung. Die Leitung muss weiterhin einen konsistenten und nicht fremdgesteuert dehnbaren Wertekorridor vorgeben, der nicht in Konflikt steht mit z.B. Verfügbarkeitsengpässen oder Preiserwartungen der Hauptkunden. Abwehr- und Präventionsstrategien haben lange Zyklen, bis sie Wirkung zeigen und „greifen“. Eine Volatilität der zugrunde liegenden Wertvorstellungen ist kontraproduktiv.
Qualifikation, Interdisziplinarität und Aufmerksamkeit
Binden Sie Ihre Mitarbeiter fachübergreifend in die Risikoprävention ein und ermutigen Sie Mitarbeiter, Auffälligkeiten, Beobachtungen, Informationen an den Risiko-Manager zu kommunizieren. Je besser Ihre Mitarbeiter qualifiziert und in den Gesamtkontext eingebunden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gefahreninstinkt entwickeln und entscheidende Hinweise geben.
Angelieferte Ware nicht wie sonst? Anders verpackt? Etiketten entfernt oder überklebt? Ware auf dem LKW „für einen anderen Kunden“, die eigentlich entsorgt gehört? Beunruhigende Zahlen im letzten Jahresabschluss? Mitarbeiter des Lieferanten erzählen Ihren Mitarbeitern am Telefon von Brand im Verwaltungsgebäude? Medien berichten über unstabile Banken- oder Politsituation im Land des Lieferanten?
Zur Qualifikation gehören insbesondere das Tiefenverständnis der selbst hergestellten (oder in Verkehr gebrachten) Produkte sowie der vorangehenden Wertschöpfungskette für Rohwaren, Zutaten, halbfertige Erzeugnisse usw. Welche wertgebenden Attribute der Ware werden weitergegeben und welche Risiken?
Entwickeln Sie pragmatische Spezifikationen für Ihre zu beschaffenden Waren und bewerten diese im Risiko z.B. nach den Standard-Matrixverfahren (vgl. Abbildung 5) und dies a) für unterschiedliche Risikoklassen separat, wenn notwendig, und b) dynamisch, d.h. überprüfen Sie die Risikoeinschätzung regelmäßig und/oder bei Vorliegen neuer Informationen.
Werden Sie für einen Lebensmittel-Verfälscher zu einem beweglichen Ziel. Gehen Sie mit diesem dynamischen Satz von Risikoeinschätzungen mit Ihrem Labor oder Labordienstleister in die Diskussion und entwickeln Sie risikoorientierte analytische Prüfpläne und dynamisieren Sie auch diese synchron mit Ihrer Risikobewertung. Schließen Sie die Sensorik als mächtige ungerichtete Methode unbedingt mit ein. Erweitern Sie in der Qualitätssicherung den Raum von Prüfmethoden und lassen Sie auch nicht-amtliche und neu entwickelte Methoden zu. Erlauben Sie dem Labor, sich auf Ihre Fragestellungen einzustellen und Methoden für Ihre Produkte zu optimieren.
Bringen Sie Ihre Einkäufer, Qualitätssicherer, Controller, Technologen und ggf. auch Externe regelmäßig an einen Tisch und analysieren Sie die makro-ökonomische Situation Ihrer Lieferanten („den Markt“) und bewerten Sie diese im Hinblick auf entstehende Risiken. Wird z.B. wegen Wetters mit Qualitätseinbußen und Knappheit zu rechnen sein? Kann auf alternative Quellen umgeschwenkt werden? Bleibt dann das Risikoprofil unverändert? Mit welchen kommerziellen und mit welchen qualitätstechnischen Auswirkungen ist zu rechnen? Müssen Prüfpläne angepasst und/oder die Prüffrequenz gesteigert werden?
Machen Sie Präventionsstrategien gegen Lebensmitteverfälschung zu einem Bestandteil Ihres Nachhaltigkeitsprogramms: effektive Prävention verhindert Verfälschung und rettet damit Lebensmittel und Rohstoffe vor möglicher Vernichtung.
Flankieren Sie alle Ihre Maßnahmen durch qualifizierte juristische Arbeit und solide Verträge mit Ihren Lieferanten und Dienstleistern.
Neugier und Ausdauer
Die Transparenz vorgelagerter komplexer internationaler Warenströme und Wertschöpfungsketten nimmt in der Regel schnell ab. Dem können Sie nur begegnen, indem Sie mit Ihren Lieferanten und Dienstleistern langfristige Geschäftsbeziehungen aufbauen und diese kritisch pflegen. Seien Sie immer misstrauisch (aber nicht paranoid). Jeder Ratgeber zu Supply-Chain-Management enthält den Hinweis auf Vereinfachung der Lieferkette, daher auch hier: versuchen Sie, Ihre Waren möglichst dicht am Ursprung von wenigen Lieferanten zu beschaffen, die Sie zu langfristigen Partnern aufbauen (und erziehen).
Besuchen Sie Ihre Lieferanten regelmäßig mit einem interdisziplinären Team, auch unabhängig von formalen Audits. Seien Sie neugierig und nutzen Sie jede Gelegenheit, auch außerplanmäßig Produktion, Wareneingang, etc. zu besichtigen. Achten Sie immer auf Unplausibilitäten. Vergleichen Sie im Kopf ähnliche Lieferanten und entwickeln Sie ein Gefühl dafür, was „normal“ ist. Zeigen Sie Interesse an der Organisation und am Umfeld Ihres Lieferanten. Was bewegt ihn, wovon ist er abhängig, wie sieht seine eigene Lieferantenwelt aus? Gewinnen Sie mit Hilfe Ihres Lieferanten mehr Transparenz über die Lieferkette „davor“.
Gehen Sie bei Lieferantenaudits, Begehungen und Besuchen mit interdisziplinärem Blick vor. Sie können viel lernen, ohne zu fragen. Beispiele: Ist die Warenmenge in der Produktion und im Lager bei realistischen Umschlagszahlen plausibel mit wirtschaftlichen Zahlen (Internetrecherche), gibt es in der Produktion Details, die zu einem sonst geLEANten Prozess nicht passen? Zwischengelagerte Ware? „Gesperrte“ Ware ausserhalb des Quarantänebereichs? Wie ist ein ggf. vorhandener „Rework“-Prozess umgesetzt? Passt die zugehörige Dokumentation zu den Daten der Ausschuss- und Fehlproduktion? Sind Abfallbilanzen plausibel? Hat Ihr Lieferant denselben Grad an Aufmerksamkeit gegenüber Lebensmittelverfälschung, den Sie haben? Wenn ja, lassen Sie sich Beispiele zeigen, in denen der Lieferant verfälschte Ware „abgefangen“ hat. Worauf ist er in diesem Zusammenhang besonders stolz?
Der Aufbau eines Erfahrungsschatzes benötigt viele Jahre. Dokumentieren Sie Wissen, Erfahrungen und Erkenntnisse – egal in welcher Form. Der Prozess des Lernens hört nie auf, Wissen und Erfahrung werden nicht obsolet. In Teilbereichen können Sie sich Expertise von Dienstleistern hinzukaufen. Verfälschungstechniken, die seit Jahrzehnten vermeintlich nicht mehr angewendet werden und deren Kontrolle aus heutigen Prüfplänen verschwunden ist, können wieder „in“ werden.
Kreativität
Erklären Sie befreundeten Dritten Ihr Produkt, aus was es besteht und wie es entsteht. Lassen Sie die Dritten Ideen für Täuschungen entwickeln. Investieren Sie einige Beratertage für das, was man in der IT-Sicherheit „friendly Hacker“ nennt: Experten – bevorzugt mit interdisziplinärem Hintergrund –, die Sie „virtuell“ täuschen, Ihr Präventionssystem attackieren und Schwachstellen aufspüren. Verlangen Sie virtuelle Stresstests: Wie reagiert Ihre Organisation, wenn bestimmte Beschaffungsmärkte wegfallen oder Preise und Fälschungsrisiken aufgrund katastrophaler Ernten ansteigen? Steigt in diesen Fällen womöglich die Toleranz für qualitativ fragwürdige Ware zugunsten von Verfügbarkeit? Veranstalten Sie Kreativ-Wettbewerbe in der Mitarbeiterschaft mit dem Ziel, praktische und effektive Fälschungsideen zu entwickeln. Honorieren Sie die besten Ideen.
Bei Anwendung all dieser praktischen Hinweise wird Ihr Präventionssystem beschleunigt sicherer und „dichter“ gegenüber Verfälschungsattacken.
7. Ausblick
Zweifelsfrei werden analytische Methoden, welche auf bekannte Verfälschungen abzielen, zuverlässiger, empfindlicher und im Routineeinsatz zur Absicherung bekannter Risiken zunehmend etablierbar. Diese retrospektive Vorgehensweise wird ihre wichtige Bedeutung in der Grundsicherung vor Verfälschung nie verlieren, bietet aber naturgemäß kaum Absicherung gegenüber neuen kreativen Fälschungsversuchen.
Ungerichtete Methoden, Kombinationen von Methoden und auch der selbstbewusste Einsatz organoleptischer Verfahren mit dem Ansatz, Abweichungen von einem „Referenzprodukt“ zu detektieren, sind mächtige Instrumente, Verfälschungen aufzudecken, auch wenn im Anschluss weitere Untersuchungen notwendig werden, um die mögliche Art der Verfälschung einzugrenzen.
Nach Ansicht des Autors liegt großes Potenzial für wirksame Präventionstechniken in der Nutzung von Daten und Informationen entlang der Wertschöpfungskette sowie der Simulation und Bewertung möglicher Kausalketten. An Daten und Informationen mangelt es nicht, in allen modernen lebensmittelbezogenen Technologien sind Tätigkeiten, Anlagen, Produkte, Transporte digital miteinander vernetzt (Industrie 4.0 Ansatz), um Optimierungspotenziale entlang der Wertschöpfungskette zu nutzen und Transparenz zu erhalten. Erhebliche Herausforderungen bestehen in der geeigneten Zusammenführung der Daten, die in weiten Teilen sensibel sind und proprietäre Informationen enthalten, sowie der übergeordneten Interpretation im Hinblick auf mögliche Risiken für das Produkt in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Für letzteres hilft wiederum eine interdisziplinäre Sichtweise. In anderen Industrien bestehen ähnliche Fragestellungen mit abstrakten, aber nachweisbar wirksamen Konterstrategien (z.?B. Luftfahrt: „bogus parts“ und „disaster prevention“), die in Teilen mit einiger Kreativität auf die moderne Lebensmittelproduktion übertragbar sind. Die Zukunft der Abwehr von Verfälschungsversuchen liegt in der soliden Grundabsicherung durch Qualifikation und der Implementierung neuer Ideen zur vorbeugenden Prävention, um den Verfälschern „beim nächsten Mal“ einen Schritt voraus zu sein.
Literatur
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- Development and Application of a Database of Food Ingredient Fraud and Economically Motivated Adulteration from 1980 to 2010/Moore, J., Spink, J. und Lipkus, M. Journal of Food Science, 2012, Volume 77 (Number 4), S. R118-R126.
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- https://www.einzelhandel.de/
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- https://www.brcglobalstandards.com/brc-global-standards/food-safety/ (alle Stand: 17.04.2018)
- https://www.ifs-certification.com/images/standards/ifs_food6_1/documents/standards/IFS_Food_V6_1_de.pdf (Stand: 17.04.2018)
- Michael Horsch, Geschäftsführer Horsch Maschinen, persönliche Mitteilung 23.01.2017
- Johan Kjeldahl, Neue Methode zur Bestimmung des Stickstoffs in organischen Körpern, Zeitschrift für Analytische Chemie, 1883
- http://www.chinadaily.com.cn/china/2008-10/10/content_7095739.htm
- http://www.chinadaily.com.cn/cndy/2008-12/27/content_7345964.htm u.v.a.m.
- O. Winkelmann, T. Küchler, A. Bendini, D. Garcia Gonzalez, T. Gallina Toschi: Tailored Sample Preparation for Olive Oil Analysis by 1H-NMR: Applications in Sensory Evaluation and Origin Classification, „Oleum“ project 635690 of the European Union‘s Horizon 2020 research and innovation programme.
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