Der Handlungsdruck für die Landwirtschaft bleibt hoch“

DLG-Präsident Hubertus Paetow zum neuen Fortschrittsbegriff Nachhaltige Produktivitätssteigerung 

Wie kann die Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft ihre Produktivität steigern – und dabei Umwelt, Tierwohl und Wirtschaftlichkeit gleichermaßen berücksichtigen? Diese zentrale Frage steht im Mittelpunkt der DLG-Unternehmertage 2025 am 2. und 3. September im Congress Center Erfurt. Unter dem Leitthema „Nachhaltige Produktivitätssteigerung – Betrieb, Markt, Umwelt“ lädt die DLG Unternehmerinnen und Unternehmer der Branche ein, gemeinsam an einer zukunftsfähigen Definition von Fortschritt zu arbeiten. Im DLG-Interview erläutert DLG-Präsident Hubertus Paetow den Fortschrittsbegriff Nachhaltige Produktivitätssteigerung. 

Was bedeutet Nachhaltige Produktivitätssteigerung für die DLG?

Hubertus Paetow: Die Agrar- und Ernährungswirtschaft sowie die Gesamtgesellschaft sind mit folgender Ausgangslage konfrontiert: Die Idealvorstellung hinter dem europäischen Green Deal, wirtschaftliche Entwicklung unter dem Primat der ökologischen Nachhaltigkeit, ist gescheitert. Die vielfältigen geopolitischen Krisen und der damit verbundene wirtschaftliche Abschwung weltweit haben uns als Gesellschaft die existentielle Bedeutung von Ertragsfortschritten und stabilen Wertschöpfungs- und Lieferketten vor Augen geführt. Gleichzeitig bleibt der Handlungsdruck für die Landwirtschaft sowie die ihr vor- und nachgelagerten Sektoren durch Klimawandel und Biodiversitätsverlust hoch. 

Im DLG-Netzwerk sehen wir daher dringenden Handlungsbedarf und begreifen dies als Startpunkt eines Diskurses über einen neuen Fortschrittsbegriff: Nachhaltige Produktivitätssteigerung. Der Begriff umfasst einen Pflanzenbau und eine Tierhaltung, die gleichermaßen wettbewerbsfähig sind und Verbesserungen bei Artenschutz, Treibhausgasemissionen und Tierwohl einkalkulieren.  

DLG-Präsident Hubertus Paetow: "Unsere Gesellschaft braucht eine fortschrittsoffene Haltung, damit die notwendigen Innovationen für Nachhaltige Produktivitätssteigerung entstehen können". Foto: DLG

DLG-Unternehmertage

Klingt nach der sprichwörtlichen Quadratur des Kreises: Wie kann die Nachhaltige Produktivitätssteigerung erfolgreich in die Praxis umgesetzt werden? 

Fakt ist: Weder Höchstertrag noch Inputbeschränkung sind für sich genommen die Lösung. Mit der Nachhaltigen Produktivitätssteigerung führen wir einen neuen und fachlich fundierten Produktivitätsbegriff ein. Dieser Produktivitätsbegriff bezieht neben den klassischen Faktoren Boden, Arbeit und Kapital auch den Verbrauch natürlicher Ressourcen, Tierwohl, Biodiversitätsverlust und Treibhausgasemissionen in die Bewertung ein. Für die betriebswirtschaftliche Berechnung der Produktivität bedeutet das: Es geht nicht nur um möglichst hohe Flächenerträge, Tageszunahmen und Milchleistungen oder um möglichst wenig Pflanzenschutzmittel oder Stickstoffdünger. Unter den Bruchstrich gehören auch möglichst geringe Treibhausgasemissionen und Biodiversitätsverluste sowie die Stärkung des Tierwohls. 

Uns ist bewusst, dass die Zielkonflikte zwischen Produktivität und Ressourcenschutz auch im Paradigma der Nachhaltigen Produktivitätssteigerung nicht vollständig verschwinden. Aber wir sind überzeugt: Sie werden deutlich kleiner, als sie es heute sind. 
 

Wie will die DLG den neuen Fortschrittsbegriff konkret etablieren? 

Die Unternehmerinnen und Unternehmer aus der Agrarbranche müssen die Initiative für die Umsetzung der Nachhaltigen Produktivitätssteigerung ergreifen. Auf den DLG-Unternehmertagen 2025 Anfang September in Erfurt werden wir daher definieren, was Nachhaltige Produktivitätssteigerung in der betriebswirtschaftlichen Praxis auf den Höfen und in den Unternehmen bedeutet. Denn dort müssen die Instrumente und Verfahren erprobt werden, die die Nachhaltige Produktivitätssteigerung überhaupt erst ermöglichen. Die Nachhaltige Produktivitätssteigerung muss aber auch von Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft getragen und unterstützt werden. 

Im DLG-Netzwerk sehen wir daher dringenden Handlungsbedarf und begreifen dies als Startpunkt eines Diskurses über einen neuen Fortschrittsbegriff: Nachhaltige Produktivitätssteigerung. 

In welcher Weise ist die breitere Gesellschaft hier gefordert?

Unsere Gesellschaft braucht vor allem eine fortschrittsoffene Haltung, damit die notwendigen Innovationen für die Nachhaltige Produktivitätssteigerung entstehen können. Zu dieser Haltung gehört, dass Nutzen und Risiken von Innovationen möglichst objektiv bewertet werden und dabei „potenzielle Gefahr“ und „tatsächliches Risiko“ eindeutig unterschieden werden müssen. Ich denke da an den Diskurs über Neue Genomische Techniken in der Pflanzenzüchtung oder auch bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Dies gilt aber beispielsweise auch für die Haltung gegenüber Innovationen im Bereich der Digitalisierung, Automation und KI im Ackerbau und in der Tierhaltung.
 

Wo sehen Sie konkret Defizite und Herausforderungen?

Bis sich innovative Technologien durchsetzen, dauert es in Deutschland und Europa aufgrund komplexer regulatorischer Prozesse häufig im internationalen Vergleich sehr lange – auch wenn manche Innovationen auf unseren leistungsstarken Betrieben bereits heute erprobt und eingesetzt werden. Die rasante Entwicklung von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Neuen Züchtungstechnologien ermöglicht aber technologische und organisatorische Innovationen, die den Zielkonflikt zwischen Ertragssteigerung und Ressourcenschutz deutlich verringern. Konkrete Beispiele wären effiziente Datenmanagementsoftware, verbesserte Entscheidungs- und Steuerungsalgorithmen, hochauflösende Sensorik, teilautonome Robotik, Precision-Farming-Lösungen sowie wassersparende Sorten und robuste Rassen. Diese Technologien machen Betriebe widerstands- und wettbewerbsfähiger – sie entlasten die Verwaltung, verbessern das Tierwohl durch KI-gestütztes Herdenmanagement und ermöglichen einen gezielteren, sparsameren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln.

Zu dieser Haltung gehört, dass Nutzen und Risiken von Innovationen möglichst objektiv bewertet werden und dabei „potenzielle Gefahr“ und „tatsächliches Risiko“ eindeutig unterschieden werden müssen.

Wie schätzen Sie die Akzeptanz in der Gesellschaft für die Nachhaltige Produktivitätssteigerung ein?

Damit die Nachhaltige Produktivitätssteigerung auf Akzeptanz stößt, brauchen wir klare, objektive Maßstäbe und Messbarkeit für Artenvielfalt und Tierwohl – ähnlich wie beim Handel mit CO₂-Zertifikaten. In der landwirtschaftlichen Praxis kann das etwa durch KI-gestützte Tierwohlmessungen im Stall oder am Schlachtband geschehen – als Basis für eine faire, monetäre Bewertung des Tierwohls. Erste Forschungsergebnisse im Bereich der Biodiversität zeigen: Artenvielfalt lässt sich zunehmend automatisiert erfassen und bewerten – ein wichtiger Schritt hin zu ihrer messbaren Inwertsetzung. Die DLG ist hier an dem europäischen Projekt BioMonitor 4 CAP beteiligt. Dessen Zielsetzung ist vereinfacht formuliert, die Messung von Biodiversität in der Landwirtschaft flächendeckend und praktikabel zu skalieren – und auf diese Weise eine gezielte Stärkung des Artenschutzes zu ermöglichen. 
 

Wie leben Sie die Nachhaltige Produktivitätssteigerung heute schon als landwirtschaftlicher Unternehmer auf Ihrem Betrieb? 

Ein gutes Beispiel ist die Kombination von chemischer und mechanischer Unkrautbekämpfung in Reihenkulturen, wie zum Beispiel bei der Rübe. Der chemische Pflanzenschutz wird per Bandspritze nur auf der Reihe, also den Rüben, ausgebracht. Dazwischen wird mit der GPS-geführten Hacke das Unkraut mechanisch bekämpft. Somit sparen wir 70 Prozent der Herbizide ein und das bei gleichem Ertrag und ähnlichen Verfahrenskosten. 

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