„Wir müssen uns über die Standards unserer Kommunikation verständigen“
Prof. Dr. Andres Rödder, Key Note Speaker DLG- Wintertagung 2025 zum Paradigmenwechsel - der Kulturwandel in den westlichen Gesellschaften
Die Geschichte der internationalen Ordnung nach 1990 ist eine Geschichte der großen Träume und bitteren Realitäten. Und sie zeigt, wie wichtig es ist, den Dingen auf den Grund zu gehen, anstatt sich mit Überschriften, Vorurteilen und Halbwissen zu begnügen. Im DLG Interview spricht der Historiker Prof. Andreas Rödder über grüne Hegemonie als Vorläufer der vielen Regulierungen, den Voraussetzungen für einen EU-Beitritt der Ukraine und einer widersprüchlichen Energiewende in Deutschland. Prof. Rödder ist Key-Note-Speaker auf der DLG-Wintertagung am 19. Februar 2025 in Münster.
DLG: Welche Folgen hätte ein EU-Beitritt der Ukraine für die europäische Landwirtschaft?
Andreas Rödder: Ein Beitritt der Ukraine in die EU würde das ohnehin überdehnte System der Europäischen Union und insbesondere den Agrarmarkt in seiner hergebrachten Form überfordern. Wenn die EU die Ukraine aufnehmen will, muss sie anders denken und handeln als bisher. Insofern ist die Ukraine für die EU Herausforderung und Chance zugleich.
Lässt sich der Agrarteil in den Verhandlungen ausklammern?
Nur, wenn die Europäische Union es schafft, ihre bisherigen Prioritäten anders zu setzen. Ein Weiter so wie bei den bisherigen Beitrittsverhandlungen mit den Kopenhagener Kriterien, der vollständigen Übernahme des acquis communautaire und dem Ziel der weitgehenden Angleichung wird nicht funktionieren.
Nach der deutschen Wiedervereinigung sind die Befürchtungen westlicher Landwirte gegenüber den Großbetrieben im Osten ins Abseits zu geraten, nicht eingetreten. Könnte es wieder so kommen?
Die Landwirtschaft in der Ukraine hat eine ganz andere Dimension als die der neuen Länder in Deutschland. Wenn die EU die Ukraine aufnehmen will, muss sie dies aus geopolitischen Erwägungen tun – aber das ist eine grundsätzlich andere Zielsetzung als die bisherige einer „immer engeren Union“.
Zur Person
Andreas Rödder (57) ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Denkfabrik R21. Neue bürgerliche Politik. Der Historiker hat verschiedene Publikationen zur modernen Gesellschaftspolitik geschrieben, darunter „21.1 Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015/23) und „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019) veröffentlicht. Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung. Er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft. Am 19. Februar 2025 ist Rödder Key-Note-Speaker auf der DLG-Wintertagung zum Thema: “Paradigmenwechsel - der Kulturwandel in den westlichen Gesellschaften".
Kommen wir zur DLG-Wintertagung und zum “Paradigmenwechsel - der Kulturwandel in den westlichen Gesellschaften”: Kann die Gesellschaft mit dem Tempo des stattfindenden Wertewandels mithalten?
Der entscheidende Wandel findet gegenwärtig auf technologischer, ökonomischer und geopolitischer Ebene statt – ich nenne die Stichworte Deindustrialisierung und Deglobalisierung, den europäischen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit oder den neuen Ost-West-Konflikt. Mit der Verarbeitung dieser Wandlungsprozesse tun sich die westlichen, vor allem die europäischen Gesellschaften schwer.
Worin unterscheiden sich die Prozesse?
Was man für falsch und richtig hält, was man politisch tut und was man lässt, handeln die westlichen Demokratien in der Öffentlichkeit aus. In China ist das anders. Dort werden Prozesse von oben verordnet. Dasselbe gilt für Russland. Autoritäre Gesellschaften sind effizienter, Demokratien setzen darauf, dass der Wettbewerb der Ideen zu besseren Entscheidungen führt. Diese Aushandlungsprozesse sind ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche.
Wie sehen Sie die Gefahr von fake news, deren sich die Gesellschaft kaum mehr erwehren kann?
Fake news hat es in der Geschichte schon immer gegeben. Die Juden sind zum Beispiel als Brunnenvergifter gebrandmarkt worden, wenn eine Pest ausgebrochen ist. Durch die Geschwindigkeit und die Volumina umlaufender Informationen haben fake news im Zeitalter sozialer Medien allerdings eine neue Dimension gewonnen. Auch das ist nicht neu: In der Moderne hat der Fortschritt immer wieder Probleme erzeugt, die bearbeitet werden müssen. Nun haben die neuen Medien die Standards der Öffentlichkeit verändert. Sie ist aber die Herzkammer der Demokratie, und daher müssen wir neue Spielregeln definieren.
Reichen die Appelle einiger Bundestagsparteien, eine fairen Wahlkampf zu führen, aus?
Nein – zumal Fairness immer im Auge des Betrachters liegt. Wir müssen uns in den Zeiten sozialer Medien grundsätzlich über die Standards unserer Kommunikation verständigen. Deshalb haben wir uns diese Standards mit unserer Denkfabrik Republik 21 für das Jahr 2025 als einen Schwerpunkt unserer Arbeit vorgenommen.
Was wir derzeit an Empörungskultur und an entgrenzten Fake news erleben, die von außen - wie von russischer Seite - befeuert werden, das ist eine Gefahr für die offene Gesellschaft.
Gibt es hierfür einen neugeschichtlichen Bezug?
In den 70er Jahren ist der so genannte Beutelsbacher Konsens formuliert worden, der die Leitlinien einer demokratischen politischen Bildung absteckt. Er umfasste vor allem das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot. Das heißt: alles, was in der Gesellschaft strittig ist, muss auch kontrovers dargestellt werden. Und es ist nicht erlaubt, so miteinander zu kommunizieren, dass man den anderen mit der eigenen Meinung in Bedrängnis bringt. Wenn sich jemand in einer Diskussion nicht daran hält, kann ich immer darauf verweisen, dass diese Standards von allen eingehalten werden müssen.
Wir brauchen solche Spielregeln, auf die sich alle einigen, als Leitplanke der öffentlichen Debatte. Diese gilt es wieder deutlicher zu formulieren, sozusagen als eine Art Selbstverpflichtung der Gesellschaft. Denn was wir derzeit an Empörungskultur und an entgrenzten Fake news erleben, die unter anderem von außen - wie von russischer Seite - befeuert werden, das ist eine Gefahr für die offene Gesellschaft.
Vor einem Jahr demonstrierten bundesweit Landwirte gegen die überbordende Bürokratie. Warum ist die Umsetzung so schwierig?
Weil der Vorsatz, Bürokratie abzubauen, bislang immer zu noch mehr Bürokratie geführt hat, indem zunächst einmal eine neue Behörde für Bürokratieabbau eingerichtet wurde. Das Problem geht aber darüber hinaus. Es liegt in einer grundlegenden Veränderung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, in dem der Staat von der Kindererziehung über Ernährungsfragen bis zur Daseinsvorsorge oder der sogenannten Demokratieförderung immer weiter in eine zunehmend individualisierte Gesellschaft vordringt – und die Gesellschaft dies in weiten Teilen auch erwartet. Das heißt aber auch: Alle sind für Bürokratieabbau, aber nicht für die Reduzierung von Staatstätigkeit in den Bereichen, die einen selbst betreffen. Zugleich legt die aus dem Ruder gelaufene staatliche Regulierung vom Lieferkettengesetz bis zu den Vorschriften für den Eigenheimbau die Dynamik der Gesellschaft lahm. Das heißt: Bürokratieabbau muss systematisch und als Querschnittsaufgabe, mit großer Ernsthaftigkeit und auch gegen Widerstände geschehen und weit über die bloße Ankündigung einer Entbürokratisierung hinausgehen.
Bürokratieabbau muss systematisch und als Querschnittsaufgabe, mit großer Ernsthaftigkeit und auch gegen Widerstände geschehen.
War die von Ihnen oft zitierte grüne Hegemonie der Vorläufer zur Nachhaltigkeit unter anderem in der Produktion von landwirtschaftlichen Produkten?
Durchaus. Die grüne Politik seit den 80er Jahren geht auf Anliegen wie den Kampf gegen Umweltverschmutzung und Waldsterben, die Emanzipation von Frauen oder von Homosexuellen zurück. Zugleich bestätigt die grüne Hegemonie, wie sie sich in den 2010er Jahren durchgesetzt hat, die Einsicht, dass eine Idee immer dann schädlich wird, wenn sie zur Ideologie wird. Im Fall der grünen Hegemonie ist es die Grundhaltung gegenüber der bürgerlich-liberalen, marktwirtschaftlichen Gesellschaft, dass sie strukturell zerstörerisch und diskriminierend sei. Aus diesem grundsätzlichen Misstrauen resultieren die flächendeckenden Regulierungen. Und das ist der grundlegende Unterschied gegenüber einer Ordnungspolitik, die Rahmenbedingungen für den Markt setzt und darauf vertraut, dass innerhalb dieses Rahmens die am Markt Handelnden zu besseren Ergebnissen kommen als durch staatliche Verordnung von allem und jedem.
Die Vollendung der grünen Hegemonie gipfelte in einem grünen Wirtschaftsminister der vergangenen drei Jahre Ampelregierung?
Ja, aber es ist eben auch nur der Gipfel. „Grüne Hegemonie“ heißt, dass grünes Denken in den 2010er Jahren die Oberhand gewonnen hat, als gar nicht die grüne Partei regiert hat, sondern Angela Merkel. Sie war die Ausführende dieses Paradigmas auf den Politikfeldern Wirtschaft, Energie und Landwirtschaft, Migration und Integration. Nach dem Regierungswechsel zur Ampelkoalition 2021 hat sich das Ganze unter Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dann noch einmal verstärkt. Inzwischen aber ist dieses Paradigma gekippt – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt. Prominentester Ausdruck dieses Paradigmenwechsels ist die Wiederwahl Donald Trumps.
Die EU Kommission hat den Wandel vollzogen von Green Deal zu Industrie first. Lässt sich der Klimawandel auf die lange Bank schieben?
Die Frage ist nicht: Klimapolitik ja oder nein? Sondern: Wie kann ich effiziente Klimapolitik betreiben, ohne den eigenen Wirtschaftsstandort zu schädigen? Es ist völlig unrealistisch zu glauben, dass eine modernere, digitalisierte und elektrifizierte Gesellschaft mit weniger Energie auskommen könnte als bisher – im Gegenteil. Die Maßgabe muss daher sein, Energieressourcen zu mobilisieren, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit zu garantieren und Emissionen zu reduzieren. Das wird nur durch einen breiten Energiemix, Technologieoffenheit und weltweiten Emissionshandel möglich sein – aber definitiv nicht mit der deutschen Devise „alles elektrisch, nur Erneuerbare, keine Kernenergie“. Die deutsche Energiewende als Teil der grünen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist gescheitert. Wenn Deutschland seine Zukunftsfähigkeit sichern will, kann das Land nicht pfadabhängig weitergehen, sondern muss grundlegend umsteuern.