Biogas als Eckstein für die Energiewende

Interview mit Horst Seide, 
Präsident des Fachverbands Biogas

„Das Wort Biogas sucht man in der Kraftwerksstrategie der Bundesregierung vergeblich“ – mit deutlichen Worten beschreibt der Präsident des Fachverbands Biogas, Horst Seide, die Situation seiner Branche im Vorfeld der EnergyDecentral 2024, die vom 12. bis 15. November in Hannover stattfindet. Im Interview mit der DLG (Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft) fordert Seide ein klares Signal pro Biogas und gibt Einblicke in die Technologien, die auf dem Messegelände in Hannover gezeigt werden.

DLG: Herr Seide, sprechen wir über die Rolle von Biogas in der Energiewende. Im Prinzip müssten Biogasanlagen gut zu Windkraft, Photovoltaik und der Wärmewende passen. Immer, wenn der Wind abflaut oder keine Sonne scheint, könnten diese Anlagen einspringen und die Stromerzeugung übernehmen ...

Horst Seide: …und die dabei entstehende Abwärme könnte gespeichert und in Wärmenetze gespeist werden. Dennoch sind derzeit kaum Initiativen seitens der Politik zu verzeichnen, die Rolle der bestehenden Biogas- und Biomethananlagen in diese Richtung zu entwickeln – und dass, trotz des fortschreitenden Klimawandels. Im Strombereich, in dem Biogas umsatzmäßig am stärksten ist, sieht es momentan nicht gut aus. Wir haben hier eine hohe Anzahl von Anlagen, die eine Anschlussförderung brauchen.

Von welchen Zahlen sprechen wir hier?

Noch gibt es knapp 10.000 Anlagen mit einer Gesamtleistung von rund sechs Gigawatt, die pro Jahr über 33 Terawattstunden Strom erzeugen. Das entspricht etwa sechs Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland und der gleichen Menge an Wärme, die vor allem im ländlichen Raum genutzt wird. Für hunderte Anlagen endet der EEG-Vergütungszeitraum in den nächsten Jahren – und die Ausschreibungsrunden für eine Anschlussvergütung waren zuletzt dreifach überzeichnet.

Eine Ihrer Forderungen lautet: Mehr dezentrale Biogasanlagen statt neue Gaskraftwerke. Welche Rolle könnte Biogas im Rahmen der deutschen Energieversorgung spielen?

Eine Verdopplung der aktuellen Leistung auf zwölf Gigawatt bis 2030 wäre problemlos möglich. Bis 2040 ließe sich die Leistung sogar auf 24 Gigawatt erhöhen. Biogas kann alles, was fossiles LNG kann und steht im Vergleich zu Wasserstoffimporten sofort und regional zur Verfügung. Dennoch sucht man das Wort "Biogas" in der Kraftwerksstrategie der Bundesregierung vergeblich.

Zuletzt haben die Abgeordneten im Bundestag auf Forderungen der Branche reagiert und Verbesserungen für die Biomasse mit dem "Solarpaket I" eingeführt ...

Das Solarpaket adressiert viele regulatorische Hemmnisse. Die anteilige Verschiebung von ungenutzten Volumina aus der Biomethanausschreibung ist zweifellos eine Möglichkeit, die einigen Bestandanlagen in den kommenden Jahren helfen wird. Erfreulich sind auch die Streichung der Südquote beziehungsweise der Südregion für die kommenden Biomasse- und Biomethanausschreibungsrunden sowie die Abschaffung der Mindestverweilzeit von Gärsubstraten im gasdichten System. Angesichts der dreifachen Überzeichnung der Biomasseausschreibung im vergangenen Jahr reicht dies jedoch nicht aus. Der grundsätzliche Überarbeitungsbedarf am Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) besteht weiterhin.

Das heißt, der Rückbau geht nahezu ungebremst weiter?

Um es deutlich zu sagen: Ohne eine deutliche Anhebung der Ausschreibungsvolumina im regulären Segment ist der Erhalt des Biogasanlagenbestandes auf heutigem Niveau nicht zu realisieren! Allein zur Stabilisierung des bestehenden Anlagenparks braucht es in der Biomasse-Ausschreibung mindestens 1.800 Megawatt pro Jahr. Gleichzeitig müssen Biogasanlagen in eine flexiblere Zukunft geführt werden. Um eine Umrüstung von Biogasanlagen anzureizen, ist hierfür der Flexibilitätszuschlag an die Inflation sowie die gestiegenen Zinsen anzupassen und auf mindestens 120 Euro pro Kilowatt zu erhöhen.

Biogas kann alles, was fossiles LNG kann und steht im Vergleich zu Wasserstoffimporten sofort und regional zur Verfügung. 

Halten Sie eine Verdopplung der Leistung von Biogasanlagen unter diesen Bedingungen überhaupt für machbar?

Ich halte sie für zwingend erforderlich. Und selbst eine Verdopplung reicht meines Erachtens vor dem Hintergrund der REPowerEU-Strategie zur Beendigung der Abhängigkeit Europas von Importen fossiler Brennstoffe nicht aus. Je massiver die regenerativen Alternativen ausgebaut werden, desto dringender stellt sich die Frage: Wer stellt die Energie zur Verfügung, um die Schwankungen bei Wind- und Sonnenenergie auszugleichen? Die Speicherfrage ist daher essenziell.

Mit Blick auf die diesjährige EnergyDecentral zeigt sich, dass Batteriespeicher zuletzt ein rasantes Wachstum verzeichneten ...

Stromspeicher spielen für ein stabiles Netz zukünftig eine zentrale Rolle. Doch auch hier hinkt die Entwicklung dem geplanten Ausbau von Photovoltaik und Windkraft hinterher. Unabhängig davon bieten Biogasanlagen auch bei der Speicherung Vorteile, denn sie können Biogas und Biomethan länger und saisonal vorrätig halten. So lässt sich die Strommenge der Anlagen im flexiblen, dem Wind- und Sonnenstromlieferung angepassten Betrieb, deutlich besser verteilen: durch zusätzliche Gasspeicher und mehr Motoren.

Das Prinzip nennen Fachleute "überbauen", weil mehr Motoren installiert sind, als die Biogasanlage rund um die Uhr versorgen könnte ...

So werden Biogasanlagen, die ursprünglich als Dauerläufer zur Produktion von Grundlast konzipiert wurden, zu hochflexiblen Systemen die nur punktuell im Einsatz sind, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Das würde den Bau neuer Erdgaskraftwerke überflüssig machen und andere Back-up-Systeme müssten seltener angefahren werden. Dafür benötigen die Anlagen leistungsstärkere Blockheizkraftwerke, größere Gasspeicher und größere Wärmespeicher, die Kommunen mit klimafreundlicher Wärme versorgen können. Eine immer wiederkehrende Frage an den Ständen auf der EnergyDecentral ist deshalb die nach der optimalen Überbauung.

Stromspeicher spielen für ein stabiles Netz zukünftig eine zentrale Rolle. 

Bis 2030 sollen die kommunalen Wärmenetze zu 30 Prozent und bis 2045 vollständig mit Wärme aus erneuerbaren Energien oder unvermeidbarer Abwärme gespeist werden. Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die Biogasanlagen in Deutschland, die zumeist von Landwirten betrieben werden?

Grundsätzlich müssen wir hier zwei Optionen unterscheiden: Zum einen die Wärme, die aus Biogas mittels Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) direkt an der Biogasanlage gewonnen wird. Im Jahr 2023 wurden in Deutschland über 14 Terawattstunden Wärme auf diese Art und Weise bereitgestellt. Damit kommt der KWK eine zentrale Bedeutung im Rahmen der kommunalen Wärmewende zu.

Über die Hälfte der Biogasanlagen hierzulande widmen sich gegenwärtig dieser Aufgabe ...

Wenn es in Zukunft also keine biogasbetriebenen Anlagen mehr mit Anschluss an ein Wärmenetz gibt, dann werden die Ziele der Wärmewende im ländlichen Raum fallen. Die zweite Option, über die wir sprechen, ist die Aufbereitung von Biogas zu Biomethan. Rund 4,9 Terawattstunden Wärme wurden 2023 aus Biomethan mittels Blockheizkraftwerken beziehungsweise Feuerungsanlagen am Erdgasnetz gewonnen.

Biomethan lässt sich direkt ins Netz einspeisen. Damit wird es für Verbraucher mit einer Gasheizung interessant ...

Ja, wir reden hier allerdings über einen Wachstumsmarkt auf sehr geringem Niveau. Biomethan hat im deutschen Erdgasnetz aktuell einen Anteil von gerade mal einem Prozent und spielt damit keine große Rolle bei der Wärmeversorgung. Der größte Teil wird in Blockheizkraftwerken in Fern- und Nahwärme sowie Strom umgewandelt. Insgesamt hat die im Jahr 2023 aus Biogas und Biomethan bereitgestellte Wärmemenge den Bedarf von 1,8 Millionen Haushalten gedeckt.

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Verfahren, welche sich zur Herstellung von Wasserstoff aus Biogas eignen. 

Überall, wo Wind- und Solarstrom nicht direkt eingesetzt werden können, kommt grüner Wasserstoff als speicherbarer Energieträger ins Spiel. Welche Potenzial sehen Sie hier?

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Verfahren, welche sich zur Herstellung von Wasserstoff aus Biogas eignen. Größtenteils befinden sich diese noch in der Entwicklungsphase oder werden im Pilotmaßstab betrieben. Eine Alternative zur Erzeugung von Wasserstoff mittels Elektrolyse ist beispielsweise die Herstellung von Wasserstoff aus Biogas durch Dampfreformierung. Eine weitere Möglichkeit sind Power-to-Gas-(PtG)-Konzepte für Biogasanlagen in der Nähe von Windkraft- und Photovoltaikanlagen, um Stromüberschüsse in speicherbare, gasförmige Energieträger umzuwandeln. Gerade im Bereich Sektorenkopplung verspreche ich mir von der EnergyDecentral neue und spannende Ansätze.

Wie kann ein solcher Power-to-Gas-Ansatz aussehen?

Konkret kann eine solches Konzept etwa vorsehen, dass Windräder den Strom für einen Elektrolyseur liefern, der Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegt. Die Biogasanlage wiederum liefert das Rohbiogas, dessen CO2-Anteil in einem Reaktor mit dem Wasserstoff zu Biomethan reagiert.

Sie sprachen es bereits an: Die Europäische Kommission hat vor zwei Jahren mit "REPowerEU" eine Strategie zur Umgestaltung des europäischen Energiesystems vorgestellt. Ziel ist, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu verringern und den Übergang zu klimaneutraler Energie zu beschleunigen ...

Fester Bestandteil der Strategie ist ein Aktionsplan, mit dem bis 2030 eine Steigerung der EU-Biomethanproduktion auf 35 Milliarden Kubikmeter pro Jahr erreicht werden soll. Innovationen und die  finanzielle Unterstützung zur Steigerung der Biogasproduktion übernehmen eine Schlüsselrolle. Wir benötigen rund 5.000 neue Biogasanlagen, um das ehrgeizige EU-Ziel zu erreichen.

Halten Sie das Ziel der EU für realistisch?

Ja, innerhalb der EU sehen wir, dass Nachbarländer wie Frankreich dabei sind, den Biogas- und Biomethansektor massiv auszubauen. Auch Deutschland ist es nach 2006 gelungen, in weniger als zehn Jahren rund 6.000 Biogasanlagen zu bauen.

Das klingt nach einer klaren Zukunftsperspektive für Bioenergie ...

Das, was wir aktuell machen, ist aber entschieden zu wenig. Denn den rund 30 Stilllegungen hierzulande standen im Jahr 2022 nur knapp über 100 neu gebaute Biogasanlagen gegenüber. Zu viele rechtliche Hemmnisse und schleppende Genehmigungsverfahren behindern den notwendigen Ausbau der Biogasnutzung in Deutschland.

Wir benötigen rund 5.000 neue Biogasanlagen, um das ehrgeizige EU-Ziel zu erreichen.

Besteht das Risiko, dass der Standort Deutschland auch technologisch abgehängt wird?

Vorausgesetzt, die Entwicklung in Deutschland geht so weiter, wie bisher und die Förderungen bleiben so restriktiv: Ja. Die überwiegend mittelständischen Unternehmen der Branche zählen zu den führenden Innovationstreibern in Europa. Ein Großteil stellt auf dem Messegelände in Hannover aus. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich dieses über 20 Jahre aufgebaute Know-how zunehmend ins Ausland verlagert, da dort im Gegensatz zu Deutschland weiterhin auf Biogas gesetzt wird.

Wie können Biogasanlagen mit Auslaufen der EEG-Förderung wirtschaftlich weiterbetrieben werden? Was raten Sie Landwirten, die jetzt nach Lösungen suchen?

Es gibt leider keine einheitliche Antwort auf diese Frage. Weil die Biogasanlagen so unterschiedlich sind, sollte jeder erst einmal eine Analyse seiner Biogasanlage vornehmen, um dann in einem zweiten Schritt ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Perspektivisch könnten viele Altanlagen sicherlich zur Biomethanproduktion umgerüstet werden.

Ein weiteres Thema, das auf die Landwirte zukommt, ist das Thema Carbon-Management. Welche Chancen bietet Biogas für negative Emissionen?

Biogas eignet sich dafür hervorragend, denn durch die Energieerzeugung aus Biomasse in Kombination mit der Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoffdioxid kann der Atmosphäre dauerhaft biogener Kohlenstoff entzogen werden – und es entstehen Negativemissionen. Landwirte können mit den geringsten Kosten und unterschiedlichen Konzepten Kohlendioxid aus der Atmosphäre holen. An vielen Anlagen mit neuerer Technologie, gibt es bereits einen reinen CO2-Abgasstrom, der sich mit relativ wenig Energieaufwand einfangen lässt. Das Thema dürfte auf der EnergyDecentral weiter an Bedeutung gewinnen.

Betreibern von Biogasanlagen bietet sich über den Emissionshandel also ein weiteres Geschäftsmodell?

Dazu sind natürlich Investitionen in die Bestandsanlagen erforderlich. Die durch das Bundeswirtschaftsministerium im Rahmen der neuen Carbon-Management-Strategie in Aussicht gestellte Förderung kann dabei helfen, die Anschaffung und Integration der nötigen Technologien zu finanzieren. Wenn sich dieser Markt etabliert, werden die Einnahmen aus der Energieproduktion in den Hintergrund rücken, da die Erlöse aus dem Zertifikatehandel ein Vielfaches davon sind. Gleichzeitig ist die Abscheidung von CO2 über Biogasanlagen deutlich kostengünstiger als andere Carbon Capture and Storage Methoden. Was es jetzt braucht, ist ein politischer Rahmen, der all das ermöglicht.

Interview: Mareike Bähnisch, freie Autorin

Porträtaufnahme von Mann in Anzug.
Horst Seide ist Präsident des Fachverbands Biogas. Foto: Privat

EnergyDecentral 2024

Die EnergyDecentral 2024 findet vom 12. bis 15. November parallel zur internationalen Leitmesse für die Tierhaltung EuroTier in Hannover statt. Interessierte Unternehmen finden unter www.energy-decentral.com weitere Informationen zur Messe und die Möglichkeit zur Anmeldung. Für Fragen steht das EnergyDecentral-Team zur Verfügung: +49(0)69/ 24 788-955, energy@dlg.org.

Symbolbild: Schild mit Aufschrift "Biogastechnik".
Bei Biogastechnik liefert die Fachmesse EnergyDecentral Einblicke in Innovationen. Foto: DLG
Menschen auf Messe.
Fachbesucher auf der EnergyDecentral (Archivbild). Foto: DLG