Kirgistan: „Es gibt noch viel Entwicklungsbedarf“

Das postsowjetische Erbe in Mittelasien

Seit seiner Unabhängigkeit von der UdSSR am 31. August 1991 befindet sich das einwohnerärmste der fünf mittelasiatischen Länder, Kirgistan mit seiner Hauptstadt Bischkek, in einem Transformationsprozess. Neben gesellschaftspolitischen Wandlungsprozessen, die das Land vorrangig in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit als „Insel der Demokratie“ aufstrahlen ließen, hat sich naturgemäß auch die Landwirtschaft stark verändert. Mit dem Zerfall der UdSSR zerfielen - wie in allen ehemaligen Sowjetrepubliken – die ca. 500 in Kirgistan existierenden Kolchosen und Sowchosen. Heute werden ca. 85 % der landwirtschaftlichen Produktion aus privaten Betrieben erbracht. Die Landwirtschaft prägt das Land in vielen Teilen aber weiterhin stark und hat entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Stabilität des Landes. Der Anteil der Landwirtschaft in Höhe von 18 % (2021) am Bruttoinlandsprodukt und die Tatsache, dass ca. 40 bis 50 % der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt sind, unterstreichen das.

Als Prämisse für die Situation vor Ort gilt es zu beachten, dass 90 % der Landesfläche Kirgistans über 1 500 m liegen und gebirgig sind. Dies kann – analog zur Situation in den Alpen – als Hauptgrund dafür angesehen werden, dass 87 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LN) Weideland sind. Die Weidetierhaltung war während der gesamten Reise omnipräsent, wobei die Pferdehaltung dabei einen prominenten und tief verwurzelten Anteil in der bis 1933 stark nomadisch geprägten Kultur des Landes hat. Anders als in Europa werden die Stuten in Kirgistan bis zu sechsmal am Tag gemolken und liefern Tagesmilcherträge von bis zu 10 Litern. Neben Pferden (700 000) haben Schafe (10 Millionen, vorrangig das Fettschwanzschaf) nach wie vor eine große Bedeutung, gefolgt von Milchkühen (1,2 Millionen) und vereinzelt Yaks. Die Haltung erfolgt sehr extensiv, wobei die Probleme der Überweidung mit eigenen Augen an mehreren Orten und Höhenstufen im Land aus futterbaulicher und geobotanischer Sicht nachvollzogen werden konnten. Unabhängig davon weisen insbesondere die Sommerweiden (kirg. Dshajloos) eine kaum beschreibbare Schönheit und einen Artenreichtum auf, die zusammen mit der Herzlichkeit der Menschen in tiefer Erinnerung bleiben werden. Für viele halbnomadisch lebende Familien ist das halbstaatliche Grünland weiterhin die Grundlage ihrer Existenz. Die aus der Beweidung durch Pferde und Wiederkäuer gewonnenen Produkte und deren Vermarktung bilden auch heute noch die Einkommensgrundlage.

In den ackerbaulich genutzten Regionen des Landes bieten die lößbürtigen Böden (je nach Klima Pararendzinen, Braunerden, Schwarzerden) eine sehr vielversprechende Basis für gute Erträge. Aufgrund der negativen Wasserbilanzen wurden vielerorts Kanäle und Bewässerungssysteme angelegt. Im Tschuj-Becken im Norden des Landes konnten so über 300 000 ha Ackerland nutzbar gemacht werden. Im Land werden vorwiegend Weizen, Mais, Kartoffeln, Zuckerrüben und Gemüse angebaut, im Süden zudem Baumwolle und Tabak. Nur bei Getreide liegt der Selbstversorgungsgrad bei etwa 100 %. Die Gersten- und Weizenbestände rund um den größten See des Landes, den Issyk Kul (Nordosten), wiesen in diesem Jahr dennoch nur Erträge von 2 bis 3 t / ha auf, das langjährige Mittel liegt nur unwesentlich höher. Ursächlich sind neben dem mancherorts potenziellen Wassermangel fehlende und unzureichend eingesetzte Betriebsmittel (Diesel, Mineraldünger, Pflanzenschutzmittel und moderne Sorten). Als übergeordneter und vorrangiger Grund kann aber das fehlende Fachwissen unter den Landwirt*innen angesehen werden. Die Erfahrungen und die geführten Gespräche haben offenbart, dass Strukturen zum Wissenstransfer und zur Beratung fehlen, wie wir sie in Deutschland kennen und zu schätzen wissen. So gibt es beispielsweise ein kirgisisches Pendant zur Beschreibenden Sortenliste, das insgesamt 185 Pflanzenzüchter (auch westliche) mit einem breiten Portfolio listet. Allein, in der Praxis greifen die Praktiker*innen in Ermangelung des Wissens um die Vorteile moderner Sorten in vielen Fällen auf alte Sowjetsorten zurück und vermehren diese auch. Es fehlt damit auch der Ertragsfortschritt systematischer Pflanzenzüchtung der letzten 30 Jahre auf den Flächen. Ähnlich ist die Mehrheit der (landwirtschaftlichen) Infrastruktur zu bewerten: Der weitaus größte Teil stammt noch aus der ehemaligen UdSSR, wobei heute in der Regel von der Substanz gelebt wird. Echte Modernisierungen und Investitionen fehlen in den besuchten Landesteilen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass es nach wie vor an mutigen einzelunternehmerischen Investitionen und Visionär*innen im Land mangelt, weil die Gesellschaft es schlichtweg sehr lange nicht anders kannte. Als positives Gegenbeispiel ist jedoch ein hochmodernes Futtermittelwerk in der Nähe von Bischkek zu nennen, was den Futtermittelmangel im Land beheben und die Tierernährung tendenziell bedarfsgerechter gestalten kann.

Die Kultur- und Naturräume Kirgistans stehen vor großen zukünftigen Herausforderungen. Die enorme Bedeutung der Gletscher und der daraus resultierenden ausreichenden Wasserversorgung für weite Teile des Landes ist durch den in dieser Region überdurchschnittlichen Temperaturanstieg infolge des Klimawandels real bedroht. Umso mehr gilt es, lösungsorientiert und mit den notwendigen Innovationen und Investitionen die Zukunft proaktiv zu gestalten. Dabei können und sollten uns und den kirgisischen Kolleg*innen die Worte des bekanntesten kirgisischen Schriftstellers, Tschingis Aitmatow, ein Wegweiser und Mutmacher in unserem alltäglichen Tun sein: „Der Mensch muss jeden Tag aufs Neue Mensch werden.“

Die Expedition wurde von der gemeinnützigen Organisation „Institut für Ökologie und Landeskunde“ mit Sitz in Bischkek angeboten. Details unter: https://institute-ers.org/

Sebastian Streit

Fortbildungspreis 2018

Internationaler DLG-Preis

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