Berufswahl für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaftler 

Nicht die einfachen Antworten suchen

Klimawandel und wachsende Bevölkerungszahlen auf der einen, das wachsende Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein der Verbraucher auf der anderen Seite: Nie war es für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaftler wichtiger, sich möglichst breit aufzustellen, um die komplexen Problematiken der heutigen Zeit anzugehen. 

Durch die starke Mechanisierung ernährt ein Landwirt heute rund 140 Menschen. „Ein spektakulärer Erfolg“, sagt Prof. em. Dr. Hannelore Daniel. „1930 waren es noch drei Milliarden Menschen auf dem Planeten und 800 Millionen, die unterernährt waren. 

Heute sind wir über acht Milliarden Menschen, und immer noch die gleiche Zahl, aber damit prozentual viel weniger Menschen, die nicht ausreichend versorgt sind“, so die Ernährungswissenschaftlerin bei den Technology Days 2024, ein Event vom DIL Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik in Quakenbrück. Fakt ist aber auch: Zu den Themen, an denen wir arbeiten müssen, gehören der Verlust der Biodiversität, das Wassermanagement und die Emissionen. Außerdem müssen wir mit zunehmender Weltbevölkerung, die Lebensmittelproduktionen weiter steigern – und das vor dem Hintergrund des Klimawandels. 
 

Ideen für den Wandel

Im drängenden Transformationsprozess der heutigen Food-Branche geht es daher umso mehr um zukunftsweisende Ideen zur Optimierung von Produktionsprozessen. Absolventen, die hier eine Karriere anstreben, müssen wissen, was die Branche vor diesem Hintergrund bewegt. Die Technology Days 2024 boten dazu einige Gelegenheiten. Zum Event kamen im Juni rund 250 Experten und Branchenvertreter der internationalen Lebensmittelindustrie, um sich zwei Tage lang auszutauschen. Im Fokus standen alternative Rohstoffe, neue Verfahren der Aufbereitung, Weiterverarbeitung oder Haltbarmachung bis hin zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz. 

Besonders eine Frage brachte alle Teilnehmenden in Quakenbrück zusammen: Wie stellen wir sichere, gesunde und zugleich ressourcenschonende Lebensmittel her? Und was kann die Lebensmittelwissenschaft an dieser Stelle leisten? Dazu ein Gespräch mit Prof. em. Dr. Hannelore Daniel, die beim DIL in ihrer Keynote einen Blick auf die aktuellen und kommenden Herausforderungen unseres Ernährungssystems warf.
 

Hannelore Daniel

Prof. em. Dr. Hannelore Daniel ist Ernährungswissenschaftlerin mit Promotion und Habilitation im Fach Biochemie der Ernährung. Sie war in Gießen, Glasgow/UK sowie in Pittsburgh/USA tätig sowie an der Universität Gießen und der TU München. Sie ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie weiterer nationaler und internationaler Gremien. Obwohl emeritiert, ist sie weiterhin als wissenschaftliche Beraterin von Institutionen und Unternehmen tätig.

Frau Prof. Dr. Daniel, es kommt heute mehr denn je auf eine Transformation der Food-Branche und der damit verbundenen Lebensmittelproduktion an. Sind die Absolventen der Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften darauf vorbereitet?

Ich denke schon, dass die Wissenschaftsdisziplinen dazu befähigen – auch wenn sie letztlich nur einzelne Probleme tiefschürfend bearbeiten. Aber auch dies ist extrem wertvoll, um zu verstehen, wie mühsam es ist, zur Lösung zu kommen oder sich ihr anzunähern. Es geht darum, die Werkzeuge der Wissenschaft kennenzulernen und den Umgang mit ihnen zu üben. Die Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften stehen also für den breiten Zugang zum Themenfeld und gleichzeitig für die Tiefe des „Schürfens“ zur Erarbeitung von Lösungsansätzen.


 … etwa, wenn es um die Suche nach Möglichkeiten für eine ausreichende Proteinversorgung einer wachsenden Weltbevölkerung geht. Viele Entwicklungsabteilungen beschäftigen sich derzeit damit, pflanzliche Quellen für alternative Proteine in großem Stil nutzbar zu machen. Doch kann eine pflanzliche Ernährung die Lösung für unsere Probleme sein? 

Leider bestimmen hier zunehmend polarisierte Meinungen den Diskurs. Natürlich können Menschen sich vegan ernähren – nur muss man dann den Einsatz von Supplementen zur Verhinderung von Mangelzuständen akzeptieren. In entwickelten Ländern mit einem breiten Angebot von pflanzlichen Lebensmitteln, die das ganze Jahr zur Verfügung stehen, und extrem preiswerten Nahrungsergänzungsmitteln ist das auch kein Problem. Anders sieht es in Ländern aus, in denen nur wenige Lebensmittel für die Daseinsfürsorge bereitstehen; da bleiben vielfach die tierischen Produkte ein essenzieller Bestandteil der Kost. Und dies gilt besonders in Weltregionen mit wenig Ackerflächen, aber mit viel Grünland oder Savanne.
 

Sind New-Food-Systeme ein Schritt in die richtige Richtung? Welche Rolle spielt der Einsatz neuer Technologien wie etwa der Präzisionsfermentation? 

Neue Lebensmittelsysteme haben natürlich ihre Daseinsberechtigung, und da müssen wir in den deutschsprachigen Ländern auch offener für Innovationen sein. Die Verfahren und Techniken, die unter dem Begriff New Food System gebündelt werden, müssen aber auch unter Beweis stellen, dass sie am Ende effizienter und nachhaltiger sind. Diese Chance müssen wir ihnen geben. Zudem braucht es mehr Technologieoffenheit im Lebensmittelsektor. So auch gegenüber der Präzisionsfermentation – als neue Begrifflichkeit – für die schon lange in anderen Sektoren etablierte Biotechnologie. Sie bietet im Lebensmittelsektor viele Chancen.
 

Zusammengefasst ist vernetztes Denken also für Hochschulabsolventen heute wichtiger denn je? 

Es braucht junge Menschen, die sich auf komplexe Zusammenhänge einlassen wollen und nicht die einfachen Antworten suchen. Leider sind es immer weniger, die sich wissenschaftlich diesen Themen stellen wollen, obwohl diese eine nie gesehene öffentliche Wahrnehmung haben.


Für alle, die diesen Weg einschlagen: Worauf sollten sie sich einstellen, welche Fähigkeiten sollen sie mitbringen? 

Nur wer nicht weiß, was er nicht weiß, fällt ein leichtes Urteil. Wissen ist also essenziell und erlaubt auch viel besser mit Widersprüchen umzugehen. Experten für den Bereich Ernährung brauchen die Kenntnisse zur Genese der Lebensmittel und ihrer Be- und Verarbeitung und ernährungsphysiologischen Qualität. Nur dann sind sie auch befähigt, die Produkte von morgen nachhaltiger und gesundheitsförderlicher zu machen. Die Pluralität von Lebensstilen lässt eine neue Vielfalt von Produkten zu, die der neuen Werteordnung von Konsumentinnen und Konsumenten gerecht werden können.

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