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Technische Innovationen sind die Lösung

Frank Gemmer: 3,5 bis 4 Millionen Hektar in Deutschland von Pflanzenschutzrichtlinie betroffen

Der Ruf an die Politik nach verlässlichen Leitlinien für die Entwicklung einer nachhaltigen und produktiven Landwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten ist auf der DLG-Wintertagung in Hannover in dieser Woche wiederholt worden. Sorgen bereitet dem Industrieverband Agrar (IVA) der dringend überarbeitungsbedürftige Vorschlag der Europäischen Kommission für die EU-Verordnung 2021/2115 über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (SUR). Vorgesehen ist eine 50-prozentige Reduktion von Menge und Risiko der eingesetzten Pflanzenschutzmittel bis 2030 und die Halbierung des Einsatzes besonders gefährlicher Pflanzenschutzmittel.

Fokus liegt auf den Risiken

Die agrochemische Industrie bekennt sich schon lange zu einer nachhaltigen Landwirtschaft – und das schließt intelligent gemachte Reduktionsprogramme ausdrücklich mit ein. Dabei darf der Fokus aber nicht auf Mengen liegen, sondern auf den Risiken, die mit der Anwendung unserer Produkte einhergehen. Wir sind überzeugt, dass wir dies besser mit technischen Innovationen wie Digitalisierung und Präzisionslandwirtschaft lösen als mit starren Regeln. Nachhaltigkeit erreicht man am besten durch Innovation.

3,5 bis 4 Millionen Hektar betroffen

Persönlich habe ich in der Anhörung des Agrarausschusses im Deutschen Bundestag vor Kurzem die fehlende wissenschaftliche Basis der Reduktionsziele für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und die fehlende Berücksichtigung der Verfügbarkeit von Alternativen zu chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln angemahnt. Die einseitige Fokussierung auf ein nicht zielführendes sowie nicht evidenzbasiertes Pflanzenschutz-Reduktionsprogramm könnte schwerwiegende Konsequenzen für die Landwirtschaft und weitere Anwendungsbereiche wie die Forstwirtschaft und die Landschaftspflege haben. Sollten die EU-Vorgaben 1:1 umgesetzt werden, wären nach Schätzungen von Wissenschaftlern zwischen 3,5 und 4 Millionen Hektar der Ackerfläche in Deutschland von einem Totalverbot des Pflanzenschutzmitteleinsatzes betroffen. Als eine Folge ist die Beschleunigung des Agrarstrukturwandels hin zu weniger, dafür aber größeren Agrarbetrieben und eine höhere Importabhängigkeit zu erwarten. Dies wird aus einer Vielzahl von internationalen wissenschaftlichen Folgeabschätzungen zur Farm-to-Fork-Strategie der EU deutlich.

Vom Nettoexporteur zum Nettoimporteur

Demnach würde die Umsetzung der Strategie zu einem Produktionsrückgang in der EU von 7 bis 20 Prozent führen. Weltweit hätte das, so etwa die Abschätzung des US-Landwirtschaftsministeriums, einen Mengenrückgang bei wichtigen Agrargütern um bis zu 11 Prozent zur Folge. In der EU könnten die Importe von Getreide deutlich steigen und die Region von einem Nettoexporteur zum Nettoimporteur von Nahrungsmitteln machen. In der Folge würde damit die europäische Agrarproduktion mehr ins Ausland verlagert.

Diese Warnungen blieben beim EU-Agrarministerrat nicht ungehört. Denn wohlgemerkt: Alle Folgeabschätzungen zur Farm-to-Fork-Strategie stammen aus der Zeit vor des Überfalls Russlands auf die Ukraine.

Um die Reduktion unter diesen Aspekten zu betrachten, hat der Rat die Kommission aufgefordert, bis Mitte des Jahres ergänzende Studien und Abschätzungen vorzulegen, die diese neue Realität abbilden. Geprüft wird, inwieweit die Ukrainekrise die Ernährungssicherung bei einer geplanten Pflanzenschutzmittel-Reduktion um 50 Prozent beeinflusst. Da zugleich auch der Umwelt- und der Agrarausschuss des Europäischen Parlaments miteinander um den Verordnungsvorschlag ringen, ist nicht auszuschließen, dass ein Beschluss in der aktuellen Legislaturperiode bis zu den Europawahlen im Mai 2024 nicht mehr zustande kommt. Ob dieser Fall zum Positiven oder Negativen für die Landwirtschaft gereicht, bleibt dahingestellt. Für die Pflanzenschutzindustrie geht die Arbeit an nachhaltigen Lösungen unabhängig davon weiter.

Innovationsfreundliche Politik

Große Hoffnungen setzen wir dabei auf die Digitalisierung. Voraussetzung dafür ist eine innovationsfreundliche Politik, die landwirtschaftlichen Betrieben bei Investitionen in neue Technologien unter die Arme greift, sie in der Anwendung finanziell fördert und durch Beratungsangebote unterstützt. Aber auch die Erneuerung des europäischen Rechtsrahmens für die Markteinführung modernen Saatguts aus neuen Züchtungsmethoden sowie klare Rahmenbedingungen für die Zulassung von „Low Risk Pflanzenschutzmitteln“ sind weitere Maßnahmen. Die führenden Unternehmen der Pflanzenschutz-Industrie in Europa sind bereit, erhebliche Investitionen für die Transformation der Landwirtschaft zu leisten.

Auf europäischer Ebene sind dafür bis zum Jahr 2030 Projekte mit einem Volumen von 10 Milliarden Euro für die Digitalisierung und die Präzisionslandwirtschaft vorgesehen. Davon wurden bis Ende vergangenen Jahres bereits über 2 Milliarden Euro investiert. Für die Entwicklung neuer biologischer Pflanzenschutzmittel wollen die Herstellerfirmen bis Ende des Jahrzehnts 4 Milliarden Euro ausgeben. Projekte mit einem Volumen von 1,75 Milliarden Euro wurden hier bereits umgesetzt.

Zur Person

Frank Gemmer (58) ist seit 2020 Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes Agrar (IVA). Auf der DLG-Wintertagung am 22. Februar 2023 stellte Gemmer auf dem Impulsforum „50% weniger Pflanzenschutz – zwischen Skepsis und Lösungsfindung. Hintergrund und Konsequenzen für den Pflanzenbau“ die Folgen und Hintergründe der geplanten SUR-Richtline vor. Der Diplom-Agraringenieur studierte Landwirtschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Nach leitenden Positionen im Agrarhandel und in der Pflanzenschutz-Industrie war er als Leiter Marketing und Entwicklung und seit 2017 als Geschäftsführer der Adama Deutschland GmbH tätig.