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Agrarhandel

Dr. Dirk Köckler zur Krise als Katalysator für mehr Verbund durch Straffung der Strukturen

Wir alle stehen unter dem Eindruck des bereits seit Monaten wütenden fürchterlichen Krieges in der Ukraine und der humanitären Katastrophe, die die Invasion von Putins Armee dort anrichtet. Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei den Menschen, die Angst um ihr Leben haben, Hab und Gut verlieren oder in der Sehnsucht nach Frieden auf der Flucht sind. In diesen Zeiten ist es unsere Aufgabe, mit für Ernährungssicherheit zu sorgen. Diese ist neben der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der Verteidigungsfähigkeit und der Energieversorgung ein elementarer, systemrelevanter Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Wir erleben daher in diesen Tagen eine intensive Neubesetzung von Themen wie Tierfütterung und Flächennutzung sowie die Neubeurteilung der ordnungspolitischen Instrumente. Diese Entwicklung gilt es im Sinne der globalen Ernährungssicherung und des Klimaschutzes aus dem Raiffeisen-Verbund sachlich und lösungsorientiert zu begleiten.

Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine sind für den Agravis-Konzern aktuell weiterhin beherrschbar. Sie sind aber dennoch maximal fordernd angesichts stark steigender Preise und Kosten, knapper Verfügbarkeiten und volatiler Marktverläufe. Als systemrelevantes Unternehmen kommt die AGRAVIS ihrem Versorgungsauftrag gegenwärtig vollumfänglich nach. Aufgrund abgeschlossener Kontrakte und Vorverkäufe mit der Industrie und der Landwirtschaft ist die Versorgung mit Betriebsmitteln zur Ernte 2022 sichergestellt. Das gilt auch für die Rohkomponenten, die für die Futtermittelherstellung benötigt werden. Allerdings sind Produktzusagen wie Gentechnikfreiheit oder Bio nicht für das Gesamtsortiment und -volumen aufrechtzuerhalten. Ursache hierfür sind die fehlenden Waren wie beispielsweise Bio-Soja und Rapssaat aus der Ukraine und anderen Staaten. Angesichts der Produktionsausfälle in der Ukraine wird sich die Versorgungslage generell verschärfen.

Der folgenreiche Krieg führt zu neuen, nicht immer rational-sachlich geprägten Diskussionen. In der aufflammenden Debatte um die Nutzung von Getreide für Energie und Tierfutter mahnen wir sehr zur Sachlichkeit und zur Betrachtung der Fakten: Die Verwendung von Brotgetreide in der Tierfütterung umfasst bei der Agravis weniger als 20 Prozent. Andere Interpretationen, die dazu in der politischen Diskussion auftauchen, führen zu falschen Schlussfolgerungen. Unmittelbar im Konzern produzieren wir jährlich rund 3 Mio. Tonnen Mischfutter, das sind rund 15 Prozent der deutschen Gesamtproduktion. Mit Beteiligungen steigt die Produktionsmenge auf knapp 5 Mio. t und der Anteil auf rund 25 Prozent der heimischen Produktion. Mehr als 50 Prozent der eingesetzten Rohwaren sind Nebenprodukte wie Schrote oder Kleien von Getreide sowie Eiweiß-Ölpflanzen wie Raps. Klassisches Futtergetreide wie Gerste, Triticale oder Mais hat eine feste Stellung in den mehrjährigen Fruchtfolgen auf den Äckern und dient gar nicht oder nur begrenzt für die Humanernährung. Brotgetreide hat also in der Tierfütterung eine nachranginge Bedeutung.

Wir wehren uns deshalb dagegen, eine Trog-Teller-Diskussion oder eine generelle Diskussion um die Tierhaltung in Deutschland zu führen. Wir spüren natürlich, dass Diskussionen intensiver werden und freuen uns, diese mit Fakten zu begleiten. Es ist nicht die Zeit, die Landwirtschaft - wie bisher - zu politisieren. Wir stehen für ehrlichen Dialog.

Wir bekennen uns zu kundenorientierter Sortimentsgestaltung, Nutzung von Innovationen und stellen uns dabei wie eh und je den wirtschaftlichen Grundprinzipien des Marktes. In diesen Tagen werden wir auch unweigerlich an das Selbstverständnis unserer Raiffeisen-Organisation im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe erinnert. Sie zeigt seit Generationen ihre Stärke, wenn die Herausforderungen besonders groß werden. Diese Krise zeigt schon jetzt, dass sie Katalysator für mehr Verbund durch Straffung der Strukturen – beispielsweise bei Lagerung und Logistik – und Beschleunigung von Fortschritt – beispielsweise bei der Digitalisierung – sein wird. Mit jedem Tag, den der Krieg länger andauert und die Wahrscheinlichkeit eines kompletten Energieembargos wächst, muss die Lage neu bewertet werden. Es bringt Mehraufwendungen in Produktion und Logistik mit sich und mindert gegebenenfalls die biologische Leistungsfähigkeit von Produkten, wie beispielsweise ein Verzicht auf das Pelletieren von Rinder-, Schweine- oder Geflügelfutter.

Angesichts der galoppierenden Energiepreise und vor dem Hintergrund der angestrebten Treibhausgasneutralität bis 2045 richtet sich unser Augenmerk mit Blick auf unser Portfolio für die Kundinnen und Kunden als auch auf unser eigenes Energiemanagement auf Alternativen zu fossiler Energie. Der aktuelle Krieg und die Diskussion um ein Energieembargo wirken hier beschleunigend. Biomethan steht ebenso auf unserer Agenda wie die CO2-Neutralität unserer Standorte. Erste Schritte sind gemacht: Wir erstellen CO2-Bilanzen unserer Futtermittelstandorte, um konkrete Handlungsansätze für Produktion, Sortiment und Logistik zu bekommen. An verschiedenen AGRAVIS-Standorten wird bereits eigener Solarstrom produziert. Darüber hinaus erhalten mehr als 300 Standorte bilanziell grünen Strom aus erneuerbaren Energieanlagen. Wir verschweigen allerdings nicht, dass sich der Anteil der Eigenenergie insgesamt im niedrigen einstelligen Prozentbereich befindet, die hohen Energiekosten ein weiterer Antrieb für die Straffung der Standort- und Logistikstruktur sind und wir weiter auf die umfängliche externe Gas-, Strom und Treibstoffbelieferung angewiesen sind.

Wir stehen für einen sachlichen und fachlichen Dialog mit der Politik und weiteren Stakeholdern und sind bereit für Investitionen in die Marktstruktur. Aber all das macht nur Sinn, wenn in Europa wieder Frieden einzieht. Nur Frieden schafft die Stabilität, die eine erfolgreiche Wirtschaft benötigt. Europa steht für Frieden – und der muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden.